Das Insekt Graham Masterton Das Böse hat einen Namen Bonnie Winters Job ist es, die Spuren von Morden und Gewalttaten zu beseitigen – sie macht die Stätten des Grauens wieder bewohnbar. Der allgegenwärtige Tod belastet ihre Familie, aber Bonnie bleibt gelassen – bis sie an einem Tatort eine seltene Raupenart findet und aus ihrem »Job« ein Horrortrip wird. Titel der Originalausgabe TRAUMA Arbeitsvorbereitungen In der Garage suchte Bonnie die Sprays zusammen, die sie an diesem Tag für die Arbeit brauchte. Die Reinigungsmittel standen ordentlich aufgereiht auf einem Regal an der linken Wand der Garage: die Bleichmittel und Laugen ganz oben. Zur Sicherheit. In einen blauen Milchkasten stellte sie: - den Fantastik-Universaloberflächenreiniger, - den Resolve-Teppichfleckenentferner, - das Woolite-Polster-Shampoo, - Windex-Glasreiniger, - Lysol-Desinfektionsmittel, - den Glade-Geruchsneutralisierer (parfümfrei) Sie sang vor sich hin: »Love, ageless and evergreen… seldom seen… by two.« An der Rückwand der Garage standen die Waschmaschine, der Trockner und alle ihre Gerätschaften. Die Besen und Bürsten, die Schrubber und Polierer. Die rechte Seite der Garage gehörte Duke. Auch die rechte Seite ihres Bettes gehörte Duke. An der rechten Seite der Garage stand seine aufgebockte Honda ohne Hinterrad. Im Regal an der Wand standen und lagen ungezählte Dosen mit Motoröl, leere Marmeladengläser mit Schrauben und Muttern, halb leere Bierdosen, Werkzeug und fettige Reparaturanweisungen mit schwarzen Fingerabdrücken darauf. An der Wand hing ein Playboy-Playmate-Kalender von 1997, dessen Seiten sich wellten. Weiter als bis zur Miss Februar war Duke nicht gekommen. Donnerstag, der fünfzehnte, war dick mit rotem Stift eingekreist. Diesen Tag würde Bonnie nie vergessen. Es war der Tag, an dem Duke gefeuert worden war. Das Haus der Familie Glass Sie erreichte das Haus der Familie Glass über zwanzig Minuten zu spät um elf Uhr zweiundvierzig. Der Verkehr auf dem Santa Monica Freeway hatte sie aufgehalten. Sie stellte ihren großen alten Dodge-Pick-up direkt vor das Haus und stieg aus. Der Versicherungsmensch wartete schon auf sie. Er saß in seinem Wagen. Der Motor lief, damit die Klimaanlage funktionierte. Bevor er ausstieg, setzte er sich die Sonnenbrille auf. Er war jung und dürr, aus seinem kurzärmeligen weißen Hemd staken Arme so weiß wie Hühnerbeine. »Mrs Winter? Ich bin Dwight Frears von der Western Domestic.« »Freut mich«, sagte Bonnie. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten.« »Ach, wissen Sie, Ma’am«, sagte er grinsend, »warten ist sozusagen integraler Bestandteil meiner Arbeit.« Es war ein sehr heißer Morgen, das Thermometer kratzte an der Vierzig-Grad-Marke. Der Smog färbte den Himmel bronzefarben. Bonnie lief über den Rasen des Vorgartens auf das Haus der Familie Glass zu, blieb davor stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Dwight Frears folgte ihr und blieb neben ihr stehen. Er flitschte unablässig die Mine eines Kugelschreibers. »Laut Sheriff Kellett ist das erst letzte Woche passiert«, sagte Bonnie. »Ja, Ma’am.« Dwight Frears schaute in die Papiere auf seinem Klemmbrett. »Am achten Juli, um genau zu sein.« Bonnie schützte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne. In diesem Teil von San Bernadino gab es Hunderte solcher Häuser. Alle sahen gleich aus. Schindeldach, Veranda im Hazienda-Stil, Garage mit Basketballkorb. Doch im Unterschied zu anderen Häusern dieser Art sah dieses ziemlich heruntergekommen aus. Die Klimaanlage an der Außenwand war verrostet, das Gitter der Fliegentür hatte Löcher, die hellgrüne Farbe blätterte großflächig ab. Bonnie näherte sich den Fenstern zur Straße und versuchte durch die Lamellen der schmierigen Jalousien ins Innere zu sehen. Sie erkannte eine verschlissene weiße Vinylcouch und ihre eigenes Spiegelbild in der Scheibe: eine rotblonde, robust gebaute 34-Jährige mit schwarzem Elvis-T-Shirt und weißer Stretch-Jeans. Dwight schaute wieder auf sein Klemmbrett. »Also, im Bericht des Gerichtsmediziners steht, dass die Kinder im hinteren Schlafzimmer gefunden wurden. Eines auf dem Bett und eines auf dem Ausziehsofa.« Bonnie hob eine provisorische Wäscheleine hoch, duckte sich darunter weg und begann, um das Haus herumzugehen. Auf der Rückseite lag ein kleiner Garten mit Schaukel und Klettergerüst, zwei Liegestühlen und einem verkrusteten Grill. Ein Dreirad lag umgekippt auf der Seite. Vom Garten konnte sie in die Küche sehen. Bis auf die Fliegen, die überall herumkrabbelten, sah sie aus wie jede andere Küche. Das Fenster des hinteren Schlafzimmers sah aus, als sei es von einem schimmernden schwarzen Vorhang bedeckt. Gerade wollte Dwight etwas sagen, als ihm offenbar klar wurde, was er da sah. Erschrocken sah er Bonnie an. Die ging nun wieder um das Haus herum zum Eingang. »Also, mal sehen… das hintere Schlafzimmer macht sicher am meisten Arbeit. Ich rechne mit mindestens sechs Stunden plus die anderen Zimmer, das macht dann zwölfhundert plus Material plus Entsorgung, sagen wir ungefähr fünfzehnhundert.« Für einen Moment sah es so aus, als bekäme Dwight keine Luft mehr. »Fünfzehn… Klingt vernünftig.« Im Wagen füllten sie die Versicherungsformulare aus. Gerade als sie fertig waren, hielt ein verblichener blauer Datsun mit brauner Tür neben ihnen. Eine Frau stieg aus und klopfte an das Fenster der Beifahrertür. Sie war klein und vogelartig, hatte eine große Nase und hochgesteckte Haare. »Hi Bonnie. Entschuldige die Verspätung.« »Hi Ruth. Das hier ist Dwight.« »Hi Dwight.« Dwight setzte seine Unterschrift unter den Kostenvoranschlag und zahlte gleich in bar. Nachdem Dwight gefahren war, gingen Bonnie und Ruth zum Pick-up. Er hatte Gallonen-Kanister mit Desinfektionsmitteln, grüne Plastikplane, Industrieabfallsäcke, Insektizide und Container mit Laugen und Lösungsmitteln geladen. Während Ruth in ihren grellgelben Plastik-Schutzanzug stieg, fragte sie: »Und? Hast du mit Duke geredet?« »So ähnlich. Aber ob’s was genützt hat? Duke ist in letzter Zeit so seltsam. Als ob irgendwelche Körperfresser von ihm Besitz ergriffen hätten. Wenn ich nicht genau wüsste, was für ein träger Sack er ist, würde ich denken, er hat eine andere.« Auch Bonnie schlüpfte in ihren Schutzanzug. Im besten Falle war er klebrig, aber in der Hitze dieses Tages hatte man darin schon Schweißausbrüche, wenn man nur den Reißverschluss zuzog. Um besser in die Gummistiefel zu kommen, setzte sie sich auf die Stoßstange. »Weißt du, was hier passiert ist?«, fragte Ruth. »So ungefähr. Jack Kellett sagt, sie hätten sich über das Sorgerecht gestritten, und die Frau wollte um jeden Preis verhindern, dass der Mann die Kinder bekommt. Tja, und danach haben die Nachbarn irgendwann den Geruch gemeldet und man fand die toten Kinder. Sie reichte Ruth den Mundschutz und setzte sich dann ihren auf. Mit einem Insektizid-Kanister und Müllsäcken bewaffnet schritten sie auf das Haus zu. Bis kurz zuvor hatte die Straße verlassen gewirkt, doch nun begann der Nachbar gegenüber sein Auto zu waschen und ein anderes Ehepaar trat vor sein Haus, um übertrieben aufmerksam den Rasensprenger zu überwachen. Drei Teenager mit Skateboards tauchten plötzlich auf und zogen immer engere Kreise um das Haus. Bonnies Schenkel rieben mit einem quietschenden Geräusch aneinander, ihr Atem unter der Maske hörte sich an, als wäre ihr ein Asthmatiker auf den Fersen. An der Tür blieb sie stehen und zückte den Schlüssel, den ihr die Immobilienfirma ausgehändigt hatte. Der Messingknauf hatte die Form eines Käfers. Sie öffnete die Tür, und sie traten ein. Es war ein schäbiges, gewöhnliches kleines Haus. Schmaler Korridor mit einer Tür zur Linken, die ins Wohnzimmer führte, und einer Tür zur Rechten, hinter der das Schlafzimmer lag. Die Küchentür am Ende des Korridors stand einen Spalt offen. Im Haus waren Schwärme von Fliegen. Sie waren einfach überall: auf den Wänden, den Möbeln, den Fenstern. Bonnie stieß Ruth an und staubsaugte pantomimisch. Ruth hob einen Daumen und machte sich auf die Suche nach der Besenkammer. In der Diele hing ein Gipsjesus an einem Holzkreuz, auf dem stand: »Gott segne meine Kinder«. Bonnie betrat das Wohnzimmer mit der weißen Kunstledercouch und dem Fernseher von der Größe einer Garage. Trotz ihrer Atemmaske merkte Bonnie, dass der Geruch hier am intensivsten war. Bevor sie mit dieser Art Arbeit angefangen hatte, war ihr nie klar gewesen, wie streng menschliche Körper nach ihrem Ableben riechen konnten. Sogar simples getrocknetes Blut verbreitete den Gestank von verdorbenem Hühnchen. Nachts lag sie manchmal wach und fragte sich, wie die Menschen sich trotz ihrer Vergänglichkeit lieben konnten. Wussten sie, wie ihr Inneres wirklich aussah? Sie stand auf dem plüschig-beigen Teppich im Wohnzimmer. Braune Fußspuren führten quer darüber, als habe jemand Instruktionen für einen Tanzkurs geben wollen. Auf dem Weg zur Küche verjagte sie fuchtelnd Fliegen vor ihrem Gesicht. Auf dem Abtropfgitter fürs Geschirr lag ein schleimiger gelber Klumpen, der einmal ein Eisbergsalat gewesen war. Das Messer, mit dem er geschnitten werden sollte, lag bereit daneben. Auf dem Boden des hinteren Schlafzimmers lag das Spielzeug der Kinder. Ein Telefon von Fisher-Price mit Schnur zum Hinterherziehen. Ein hellblauer Laster war mit Bauklötzen beladen. An der Wand stand ein einzelnes Bett, im rechten Winkel dazu ein Schlafsofa. Das Fenster wurde durch so viele Fliegen verdunkelt, dass Bonnie das Deckenlicht anschalten musste, um etwas zu sehen. Die glänzenden braunen Flecken auf Bett und Sofa sahen aus wie poliertes Holz. Bonnie nahm sich einen der Müllsäcke. Sie streckte sich und zog die Vorhänge herunter, die sie zusammen mit einem Haufen glänzender Fliegen in den Sack stopfte. Ruth kam mit dem Staubsauger herein. Sie fand eine Steckdose und begann, die Fliegen am Bettsofa einzusaugen. Sie wirkte so nüchtern, als mache sie nur den üblichen Hausputz. Sie rissen alle Vorhänge und Jalousien herunter. »Kann ich das behalten?«, fragte Ruth. Auf dem Arm hatte sie einen Vorhang aus Goldvelour. »Von mir aus. Den Rest bringe ich auf den Müll.« Gemeinsam trugen sie die Betten zu Bonnies Pick-up und legten sie wie ein Sandwich mit den fleckigen Seiten aufeinander, damit die Nachbarn nichts sehen konnten. Sie rissen die Teppichböden von den Dielen und rollten sie zusammen. Der Teppich im Kinderzimmer sah am schlimmsten aus. Bonnie begann mit dem Abreißen in einer Ecke des Zimmers und sah gleich die Maden darunter. Ruth kehrte sie mit Schaufel und Besen auf. Bücher, Kontoauszüge, Familienbilder, Zeitungen, Kleidung, Geburtstagskarten, die Wachsmalstiftzeichnung von zwei Jungen unter einer stacheligen gelben Sonne mit den Worten »für die übe mami«: alles landete in Müllsäcken. Nur gut, dachte Bonnie, dass diesmal keine trauernden Verwandten bei der Arbeit im Weg standen. Die Spuren eines Gewaltverbrechens zu beseitigen war schwer genug, da musste man nicht auch noch ständig gefragt werden, wie Gott das zulassen konnte. Ruth kam mit einer Spritze in der Hand aus dem Bad ins Kinderzimmer. Bonnie nahm den Mundschutz ab und hielt Ruth den Müllsack auf. »Schmeiß sie einfach hier rein. Ich sage Dan dann Bescheid.« Auch Ruth lüftete die Maske. »War zwischen der Schmutzwäsche. Wer weiß, vielleicht ist es wichtig.« Bonnie antwortete nicht. Beim Aufräumen fand sie hin und wieder Beweismittel, die von der Polizei übersehen worden waren, aber sie hatte trotzdem keinen kriminalistischen Ehrgeiz. Sie war Putzfrau, keine Polizistin. Als Putzfrau gab man besser nicht damit an, mehr zu wissen, als man wissen sollte. Zweimal war sie schon von ihren Auftraggebern bedroht worden. Als sie in einem Kamin angekokelte Briefe fand. Und als sie bei der Arbeit in einem Haus in Topanga Canyon das Telefon abnahm und eine panische Stimme »Ist sie schon tot?« sagen hörte. Zweieinhalb Stunden später hatten sie das Gröbste geschafft. Sie machten im Garten vor dem Haus eine Pause und tranken starken Kaffee aus Ruths Thermoskanne. Inzwischen tarnten die Nachbarn ihre Neugierde nicht mehr mit Heckenschneiden oder Rasensprengen. Sie starrten unverhohlen zu Bonnie und Ruth herüber, aber keiner traute sich, näher zu kommen. Ruth deutete auf die Betten, Vorhänge und Teppiche auf dem Pick-up. »Wo bringst du das Zeug hin?« »Ich bring’s zur Riverside. Ist schließlich kein Sondermüll.« »Ich dachte, die mögen da keine Maden und so.« »Maden mag ich auch nicht. Ich werde mein schönstes Lächeln für Mr Hatzopolous aufsetzen.« Nachdem sie den Rest ihres Kaffees in den Rinnstein geschüttet hatte, ging sie zurück ins Haus. Sie musste sich noch um das Schlafzimmer kümmern. Auf einem schmalen Schminktisch in der Ecke standen Cremetuben, Schminktöpfchen, Parfümflaschen und eine Primaballerina aus Porzellan, der ein Fuß fehlte. In der Mitte des Schminktisches stand einer dieser Totenköpfe aus Zucker, mit denen man in Mexiko den Tag der Toten begeht. Jemand hatte ein Stück aus dem Schädel herausgebissen. Bonnie packte einen Zipfel der zerwühlten Tagesdecke und zog sie herunter. Nachdem sie sie in einen Müllsack gestopft hatte, langte sie nach den Kissen. Etwas Schwarzes hing an einem Zipfel. Das sah sie zuerst. Dann noch eins. Und noch eins. Angewidert schüttelte sie das Kissen und sieben weitere schwarze Dinger fielen aufs Bett. Die kleinen, harten schwarzen Körper glänzten, sie hatten spitze Enden wie Muscheln. Bei näherer Betrachtung waren sie eher dunkelbraun als schwarz und dabei fast durchscheinend. Man glaubte ihren Kern zu sehen. Erst als sie einen der Körper aufhob, sah sie, dass es sich um den Kokon eines Falters handelte. Eine Art Schmetterling oder Motte, jedenfalls ein Insekt. Dass so etwas an diesem Ort auftauchte, musste am Wetter liegen. Erst eine Woche zuvor hatte sie in einem Apartment in der Franklin Avenue einen ganzen Haufen riesiger Schmeißfliegenlarven gefunden. Noch nie hatte sie so große Larven gesehen. Ruth hatte damals an ein Omen geglaubt. Wofür wusste sie allerdings nicht. Für jemanden, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, das Blut von Selbstmördern von Polstern zu schrubben, war sie ziemlich abergläubisch. Die nötigen Zutaten Das Kochbuch, das Bonnie zur Hand nahm, war ein Geschenk ihrer Mutter zur Hochzeit gewesen. »Die gute Küche für junge Bräute« von Hannah Mathias. Der Umschlag war zerissen. Das Buch fiel immer an derselben Stelle auf: bei »Fleischklops«. Dukes Lieblingsessen. Diesmal blätterte sie weiter zu den »Geflügelgerichten«. Da stand ein Rezept, mit dem sie sich schon am Wochenende beschäftigt hatte: 1 zartes Hühnchen, achteln 2 Knoblauchzehen 1 Grüne Paprikaschote 1/4 Teelöffel Nelken 2 Teelöffel Chilipulver 1/2 Pfund gehackte Tomaten 150 Gramm Rosinen 4 Esslöffel Dry Sherry 150 Gramm gehackte Grüne Oliven Bonnie setzte ihre Lesebrille auf und beugte sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck über das Kochbuch. Das Haus der Familie Winter »Wie nennst du das hier?«, fragte Duke und balancierte misstrauisch ein Stück Hühnchen auf der Gabelspitze. »Hühnchen mexikanisch«, sagte Bonnie, ohne Duke anzusehen. Duke ließ seine Gabel auf den Teller fallen. Schweigend und durchdringend sah er Bonnie gute zehn Sekunden lang an. »Darf ich dich mal was fragen, Bonnie«, sagte er dann. »Sehe ich für dich aus wie ein Mexikaner? Ich meine, ist irgendetwas an mir mexikanisch?« Bonnie starrte stumm in ihren Teller und aß weiter. Zwischen ihr und Duke saß ihr Sohn Ray. Wie um aus der Schussbahn zu gehen, rückte er ein Stück vom Tisch ab. »Also entschuldige Mal«, bohrte Duke weiter, »hast du mich in letzter Zeit mal mit Sombrero gesehen?« »Nein Duke. Ich habe dich in letzter Zeit nicht mit Sombrero gesehen.« »Ich meine, ich hab schließlich keinen schwarzen Schnurrbart, ich trag keinen Poncho und sag auch nicht ständig arriba, arriba, oder so. Stimmt’s?« »Stimmt, Duke.« »Also sehe ich nicht wie ein Mexikaner aus.« »Nein.« Ihre Kehle war so zugeschnürt, dass sie kaum schlucken konnte. Sie wusste genau, was er als Nächstes sagen würde, und sie wusste auch, wohin das führen würde. Aber sie wusste nicht, wie sie es hätte verhindern können. »Okay, verstanden. Du findest also nicht, dass ich wie ein Mexikaner aussehe. Und warum kriege ich dann mexikanisches Essen vorgesetzt?« Bonnie hob den Kopf und sah ihn an. »Du magst doch auch italienisch, obwohl wir keine Gondel in der Auffahrt stehen haben.« Er starrte sie mit gespielt übertriebener Ungläubigkeit an. »Das ist ein Witz, oder? Du versuchst, komisch zu sein. Mein Urgroßvater war Italiener. Italienisch essen liegt mir im Blut.« »Du isst auch Ente süß-sauer. Und erzähl mir nicht, du hättest chinesische Vorfahren.« »Warum musst du ständig so schnippisch sein? Warum kannst du nicht einmal eine einfache Frage einfach beantworten? Nur ein einziges Mal! Gondeln in der Auffahrt? Was soll das? Ich habe nur gefragt, was du da gekocht hast, und du hast gesagt, was Mexikanisches, und ich habe gesagt, ich bin kein Mexikaner und sehe auch nicht wie einer aus und dass ich mich deshalb frage, ob du das gekocht hast, um mich zu ärgern, oder was?« »Mir schmeckt’s«, murmelte Ray. Duke hob beschwörend die Arme gen Himmel. »Na ist das nicht toll? Dir schmeckt’s! Du bist ein echter Gourmet, was? Und du stellst dich immer auf die Seite deiner Mutter. Das, was du da isst, ist eine Beleidigung. Eine Beleidigung für mich. Gib’s ruhig zu. Du würdest dir lieber den Magen verderben, als deinem Vater zuzustimmen. Ersticken sollt ihr an dem Zeug, alle beide.« Er warf seine Serviette auf den Tisch, schob seinen Stuhl heftig zurück und stürmte aus der Küche. Die Schwingtür schnarrte zweimal hin und her und beruhigte sich dann. Bonnie saß bewegungslos über ihren Teller gebeugt, die Gabel verkrampft erhoben. Die Deckenlampe leuchtete die Szene aus wie auf einer Bühne. Ray aß weiter, dann ließ auch er das Besteck sinken. »Hat es dir wirklich geschmeckt?«, fragte Bonnie. »Hey, ich fand’s super.« Sie sah die herausgepickten Rosinen an seinem Tellerrand liegen. Sie räumten gemeinsam die Küche auf und kratzten die Überreste in den Mülleimer. Auch die große Portion, die noch im Topf war. Sie spülte schweigend das Geschirr. Ray stand blinzelnd neben ihr mit einem Geschirrtuch in der Hand. Er war lang und schlaksig und hatte knochige Schultern. Seine Haare sahen immer so aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekommen. Er war so alt, wie Bonnie es gewesen war, als sie ihn zur Welt gebracht hatte: siebzehn. War sie wirklich so jung gewesen, fragte sie sich. Unvorstellbar. Ray trug an diesem Abend sein Lieblings-T-Shirt, auf dem »Gerichtsmedizin« stand. Duke konnte das T-Shirt nicht ausstehen, zumindest sagte er das. »Ich kann das nicht ausstehen. Was sollen die Leute denken? Dass du krank bist, oder was?« Bonnie räumte das saubere Geschirr zurück in die Schränke. »Vielleicht liegt es an mir, dass dein Vater zur Zeit so empfindlich ist.« »An dir? Du hast doch nichts gemacht.« »Ich mache eben zu viel. Ich hab das Reinigungsunternehmen aufgezogen und bin nebenbei immer noch bei Glamorex angestellt. Kein Wunder, dass dein Vater sich ein bisschen nutzlos vorkommt.« »Wenn er wollte, würde er auch Arbeit finden. Aber er versucht’s ja nicht mal. Sitzt den ganzen Tag nur auf seinem Hintern vor dem Fernseher.« »Ach, Ray. Er ist schon seit über einem Jahr arbeitslos. Er ist nicht unbedingt faul – er ist irgendwie aus dem Arbeitskreislauf raus.« »Noch lange kein Grund, seinen Frust bei dir abzulassen.« »Ich bin schon groß, Ray, ich halte das aus.« Ray trat auf sie zu, umarmte sie fest und drückte sein Gesicht an ihre Schulter. Es kam völlig unerwartet für Bonnie. »Was?«, fragte sie. »Nichts. Ich wünschte mir nur, ihr würdet euch wieder vertragen.« Sie begann, ihm über die stacheligen Haare zu streicheln. »Wir vertragen uns bestimmt wieder. Versprochen. Es ist eben alles im Moment nicht einfach. Für niemanden ist es einfach.« »Aber ihr streitet euch jeden Tag. Jeden Tag!« Mit einem Schnalzen riss Bonnie sich die gelben Gummihandschuhe von den Händen. »Ach, vergiss es einfach. Willst du auch einen Tee?« Ray hob den Kopf und sah sie an. »Darf ich dich mal was Persönliches fragen?« Lächelnd legte sie ihm beide Hände auf die Schultern. »Ich bin deine Mutter. Du kannst mich alles fragen.« »Magst… na ja, liebst du Dad eigentlich noch?« Sie sah ihm in die Augen. Er hatte dieselbe Augenfarbe wie sie, dachte Bonnie. Verwaschenes Blau, in einer Familienbibel gepresste, vergessene Kornblumen. »Das ist eine wirklich schwierige Frage«, sagte sie. »Und ich kann nur sagen, dass es darauf viele verschiedene Antworten gibt, die nicht einmal ich kenne.« »War mir klar, dass du um den heißen Brei rumreden würdest.« »Ach ja? Immerhin musstest du ihn nicht essen.« Um zwei Uhr vierunddreißig am Morgen platzte er ins Schlafzimmer und stank nach Bier und Zigaretten. Er tigerte von einer Zimmerecke in die andere, während sie so tat, als würde sie schlafen. Sie hörte seine Schuhe auf den Boden fallen, dann verhedderten sich seine Beine wohl in der Hose, denn er fiel mit einem Ächzen der Länge nach neben ihr aufs Bett. »Bonnie«, stöhnte er. Sein Mundgeruch war so stark, dass sie sich abwenden musste. »Bonnie, hör mal. Ich liebe dich. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe. Du hast nicht die leiseste Ahnung… ach Scheiße!«, sagte er, weil er die Hosen nicht von den Beinen schütteln konnte. »Ja, ich weiß, wir streiten uns ständig – ich weiß das, Süße. Aber das ist nicht immer meine Schuld. Manchmal ist es – ist es auch deine. Du arbeitest den ganzen Tag und die ganze Nacht und du siehst mich überhaupt nicht mehr an, du siehst mich nicht mehr an und sagst: >Das ist mein Mann<. Verstehst du, Süße. Ein Mann braucht dieses Gefühl, dieses… Vertrauen. Und ein Mann braucht Respekt. Und was ist mit mir? Ich sag dir, was mit mir ist. Ich verlier meinen Job und werde von irgendeinem Mexikaner ersetzt. Und meine Frau, meine seit über siebzehn Jahren innigst geliebte Frau, meine Süße, meine Prinzessin – sie hat nichts Besseres zu tun, als Salz in meine offenen Wunden zu streuen. Darum geht’s. Sie streut Salz in meine Wunden. Sie schneidet mir die Eier ab und serviert sie zum Abendessen als cojones!« Er ballte die Fäuste und schlug auf das Kissen ein. Aus seinem verzerrten Mund flogen Speichelfetzen und Bonnie zog sich die Decke über den Kopf, um ihr Gesicht zu schützen. Angst hatte sie nicht. Sie wollte nur schlafen, und er sollte endlich aufhören zu schreien. »Hühnchen mexikanisch, um Gottes willen! Hühnchen mexikanisch. Verdammt, du musst einfach noch ein paarmal in der Wunde bohren, was? Wie es mir dabei geht, ist dir doch… Ich mach doch schon genug durch!« Bonnie drehte sich um und umarmte ihn. »Duke, du hast zu viel getrunken. Du solltest jetzt schlafen.« »Betrunken, sagst du? Ich bin nicht mal beschwipst. Ich bin… ich bin… verletzt.« Bonnie streichelte beruhigend seinen Nacken. »Verletzt«, sagte er ins Kissen, und das Leid in seiner Stimme wuchs noch. »Ich bin verletzt.« Selbst im Dunkeln erkannte sie in ihm immer noch den Mann, der er bei ihrem ersten Rendezvous gewesen war. Schmal, fast weiblich, mit Schmalzlocke und dieser unglaublich coolen Art sich zu bewegen und zu sprechen. Damals war er witzig und schlagfertig gewesen, zog immer die Aufmerksamkeit auf sich. Er konnte zwanzig Rauchringe hintereinander blasen. Seine Freunde nannten ihn nur den Duke und bei allen Gelegenheiten verbeugten sie sich in spöttischer Unterwürfigkeit. Aber auch der Duke wurde irgendwann älter, beendete die Schule und ging auf Arbeitssuche. Und es kam der Moment, in dem der Duke merkte, dass Rauchringe blasen keine abgeschlossene Berufsausbildung ersetzen konnte. Schließlich verlegte er Kabel in einer Autowerkstatt. Es war der beste Job, den er kriegen konnte. Als er um fünfzig Cent pro Stunde mehr bat, wurde er gefeuert und man stellte einen Elektriker aus Mexiko ein, der für zwei Dollar weniger die Stunde arbeitete. Er hob den Kopf. Sein tränenüberströmtes Gesicht glänzte im blassen Licht des Radioweckers. »Du bleibst doch bei mir, Bonnie, bitte? Du liebst mich doch, Bonnie?« »Beruhige dich und versuch zu schlafen. Ich muss um sechs raus.« »Hast du einen anderen, Bonnie? Ralph Kosherick starrt dich an, ich weiß es. Dem fallen fast die Augen aus dem Kopf, verdammt, der sabbert schon, wenn er dich sieht. Aber du lässt dich nicht von ihm ficken, Bonnie, oder? Bitte sag mir, dass du dich nicht von ihm ficken lässt!« »Oh Gott, Duke, hör bitte auf damit.« Sie schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Wenn Duke zu viel getrunken hatte, schoss er sich jedes Mal auf Ralph ein. Zugegeben, Ralph war smart und vorzeigbar und auf brüderliche Art attraktiv, aber Duke schien in Ralph noch etwas anderes zu sehen, etwas, das er abgrundtief hasste: Bildung, Werte und Hosen, die mit dem Saum gerade so den Spann berührten. »Ich schwör dir, Bonnie, wenn ich den Kerl dabei erwischen würde, wäre er ein toter Mann.« »Du bist betrunken, Duke.« Er schoss in die Höhe. »Betrunken?«, schrie er. »Betrunken?« Er packte ein Kissen und warf es quer durch den Raum. »Ich bin dein Mann, verdammt, ich versuche dir meinen Schmerz zu erklären, und da sagst du mir, ich bin betrunken? Na, entschuldige Mal! Vielleicht sollte ich in dem Fall gar nicht mit dir reden, sondern gleich das machen, was Ralph Kosherick immer mit dir macht?« »Duke, Liebling, hör jetzt bitte auf zu schreien. Ich muss morgen früh raus und Ray hat Schule.« »Da scheiß ich drauf!«, kreischte Duke. »Ich muss überhaupt nicht raus. Ich könnte den ganzen Tag im Bett bleiben und es wär völlig egal!« »Duke…« Ansatzlos riss er die Decke zurück, warf sich auf sie, zerrte ihr Nachthemd hoch und entblößte ihren runden Bauch und ihre schweren Brüste. »Duke, nein…«, sagte sie und versuchte, ihr Nachthemd festzuhalten, aber Duke drängte sich schon mit Gewalt zwischen ihre Beine. »Du und dieser verdammte Ralph Kosherick. Du und dieser verdammte… Ralph… Kosherick!« Zwischen ihren Beine fühlte er sich so weich an wie eine kleine Maus. Er wollte mit den Händen nachhelfen, sich in sie schieben, aber er brachte es nicht fertig. Er stieß mit seinen Hüften, ächzte und stöhnte. Bonnie lag nur geduldig da und wartete darauf, dass er aufgab. Es dauerte nicht lange. Er brach über ihr zusammen und schluchzte in ihr Ohr. Sein unrasiertes Kinn kratzte sie am Hals, seine Tränen machten ihre Schulter nass. Sie gab ihm kleine, trockene Küsse und streichelte seine Tolle. Sein Haar war so viel dünner geworden. Am Mittwoch zu erledigen Als Ray zwölf gewesen war, hatte er Bonnie ein kleines Ninja-Turtles-Notizbuch geschenkt. Seither hatte Bonnie es immer in ihrer Handtasche. Das Buch hatte nur noch ein paar leere Seiten, bald würde sie Ray sagen, dass sie ein neues brauchte. Mit ihrem roten Tintenschreiber machte sie eine Liste der Dinge, die an diesem Tag erledigt werden mussten. - Wäsche aus der Reinigung holen - Ralph an die »Feuchte Augen«-Promotion erinnern - Susan um 13.30 Uhr zum Mittagessen treffen - Neue Reifen abholen - Schweinekoteletts, Eis und Klopapier kaufen - Mike Paretti wegen Insektiziden anrufen Sie hatte von Pfizer erfahren, dass es ein neues, wirkungsvolles Mittel gegen Würmer gab, und sie wollte Mike fragen, ob er es schon ausprobiert hatte. Bonnie ekelte sich einerseits vor Maden und Schmeißfliegen und ähnlichen Parasiten, fand sie aber andererseits auch faszinierend. Ein Pathologe mit entomologischem Expertenwissen konnte anhand der im Körper eines Toten gefundenen Parasiten den Todeszeitpunkt, die Todesursache und häufig sogar den Tatort feststellen. Und noch etwas faszinierte Bonnie an Parasiten: die absolute Gleichgültigkeit gegenüber menschlicher Schönheit und menschlichem Leid. Sie interessierten sich für nichts außer ihren Appetit. Tagesschicht Ray kam in die Küche und gähnte. Er hatte eine Frisur wie Stan Laurel. Für gut eine halbe Minute starrte er in den geöffneten Kühlschrank. Dann schloss er ihn wieder. Bonnie hatte ihre Liste abgeschlossen, faltete sie zusammen und schob sie in ihre Aktentasche. »Du bist früh dran.« »Mmmmh. Muss noch Mathe machen.« »Dein Vater hat dich heute Nacht aber nicht geweckt, oder?« »Mich und halb Los Angeles.« Er nahm das Brot aus dem Korb, schnitt sich drei Scheiben ab und bestrich sie dick mit Erdnussbutter. Dann schnitt er zwei Bananen klein, verteilte sie auf den Broten, legte die Brote zusammen und hockte sich vor den Fernseher. Jeden Morgen aß er das Gleiche. In irgendeinem Männer-Gesundheitsmagazin hatte er gelesen, dass Erdnussbutter und Bananen den Muskelaufbau förderten. Die Küche war hellgelb gestrichen und hatte hellgelbe Vorhänge. In den Sechzigern hätte man Cornflakes-Werbung darin drehen können. Das Medium Sydney Omarr hatte Bonnie einst gesagt, Gelb würde ihr Glück bringen. Er hatte ihr außerdem prophezeit, dass sie in ihrem Leben dem Tod öfter begegnen würde als andere Menschen in dreizehn Leben. Das war vier Jahre bevor sie »Bonnies-Tatort-Reinigung« gründete. Damals hatte sie ihm nicht geglaubt. »Dein Vater fängt sich schon wieder«, sagte sie. »Wart’s nur ab.« »Klar doch«, sagte Ray, der wie gebannt Tom und Jerry verfolgte. »Er ist eigentlich ein guter Kerl. Das Leben ist im Moment nur… so verwirrend für ihn.« An die Spüle gelehnt, trank sie ihren koffeinfreien Kaffee. Sie hatte erwartet, dass Ray sich umdrehen und etwas sagen würde, aber das tat er nicht. Also kippte sie den Rest ihres Kaffees weg, spülte den Becher aus, ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf den verstrubbelten Kopf. »Also dann bis um sechs. Ich glaube nicht, dass es später wird. Heute gibt es Koteletts.« »Okay, Mom.« Für einige Augenblick verharrte Bonnie schweigend. Dann sagte sie: »Ray?« Er reagierte nicht. Er wusste, was sie gleich sagen würde, und sie wusste, dass er es wusste. Sie sagte es trotzdem. »Ich habe dich sehr lieb, Ray. Es wird alles wieder gut.« Die Einfahrt ihres Hauses war gerade breit genug für ihre zwei Autos. Bonnies Dodge-Pick-up und Dukes elfjähriger Buick Electra. Beim Einzug hatte Bonnie noch geglaubt, dieses Haus sei nur eine vorübergehende Lösung für vielleicht zwei oder drei Jahre. Sie dachte, danach würden sie ein größeres Haus mit mehr Grund kaufen, denn sie wünschte sich einen Pool, in dem man nicht nach zwei Zügen mit dem Kopf an den Beton knallte, und sie wollte es nicht in der Küche riechen, wenn die Nachbarn grillten. Vier oder fünf Orangenbäume wollte sie pflanzen. Sie träumte von einem Whirlpool unter freiem Himmel. Vielleicht sogar mit Aussicht. Das war inzwischen dreizehn Jahre her. Ray war damals vier gewesen. Längst dachte sie nicht mehr an vier oder fünf Orangenbäume, Whirlpools und schöne Aussichten. Aus dem Küchenfenster hatte sie einen Blick auf einen grau gestrichenen Zaun. Und sie verkaufte immer noch Glamorex-Kosmetika und sie schrubbte immer noch das Blut anderer Leute weg und sie wusste, dass diese Schufterei einen Sinn haben musste. Aber sie wagte es nicht, sich diesen Sinn vorzustellen. Sie mochte Barbra Streisand. »Evergreen« war einer ihrer Lieblingssongs, und sie spielte ihn immer und immer wieder. Allerdings nur, wenn Duke nicht zu Hause war. Sie nahm Dukes Electra für die Fahrt zum Venice Boulevard. Die Klimaanlage war kaputt, die Sitze mit Klebeband geflickt. Die Bluse klebte ihr am Körper, als sie Venice Boulevard erreichte. Nicht weit entfernt von Glamorex fand sie einen Parkplatz. Als sie den Bürgersteig entlanghetzte, kam sie an einem altersgebeugten Mann mit weißer Golfmütze vorbei, der breit grinsend seine dritten Zähne zeigte und bestimmt über fünfundachtzig war. »Hallo auch! Hübsche Titten!« Ihr Hirn brauchte einige Augenblicke, um zu verarbeiten, was er gesagt hatte. Dann blieb sie stehen, drehte sich um und rief: »Hey!« Aber der Bürgersteig war verlassen. Hatte sie sich die Begegnung nur eingebildet? Für einen Augenblick stand sie ratlos da, dann ging sie entschlossen weiter und schob sich, bei Glamorex angekommen, durch die Drehtür. Ihre Absätze hallten klackend über den Marmorfußboden in der von der Klimaanlage eisgekühlten Lobby. Sie nahm den Fahrstuhl zum vierzehnten Stock. Hier residierte Glamorex of Hollywood Incorporated. Im Empfangsbereich stapelten sich Kartons entlang der Wände bis zu den Fluren. Die Vertriebsleiterin Joyce Bach stand inmitten des Chaos und sah mit ihrer wilden schwarzen Mähne noch verwirrter aus als sonst. Zwischen ihren leuchtend rot geschminkten Lippen (»Scarlet Siesta«) baumelte eine brennende Zigarette. Jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, regnete Asche auf ihr königblaues Kostüm. »Es ist nicht zu fassen! Von den Herbst-Colorierun-gen liefern sie kaum die Hälfte und die Packungen für die Millenium-Intensiv-Maske sind verdruckt. Wer führt diesen verdammten Laden eigentlich? Orang-Utans?« Ein offensichtlich verärgerter Ralph Kosherick kam mit einem Clipboard unter dem Arm aus seinem Büro gestürmt. Er war groß gewachsen, hatte leicht hängende Schultern und ein breites, zerknittertes Gesicht, das an den alten Hollywood-Schauspieler Fred McMurray erinnerte. Jedes Mal, wenn Bonnie ihn traf, hatte sie das überwältigende Bedürfnis, ihre Nagelschere herauszuholen und ihm die dichten, schwarzen Augenbrauen zu stutzen. Ralph hatte die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Die lilafarbenen Hosenträger ließen die Aufschläge seiner Hosen zwei Zentimeter über dem Spann der schwarz-polierten Oxford-Schuhe schweben. »Du bist zu spät, Bonnie«, sagte er, ohne auf seine Uhr zu schauen. »Aber weil du heute morgen wieder einfach hinreißend aussiehst, will ich dir noch einmal verzeihen.« »Deiner Frau sagst du solche Sachen hoffentlich auch hin und wieder.« »Meiner Frau sag ich so was ständig. Ich sorge nur dafür, dass sie’s nicht hört, damit es ihr nicht zu Kopf steigt.« »Du bist ein unmöglicher Kerl, Ralph. Wo bin ich heute eingeteilt?« Er blätterte durch Papiere auf seinem Clipboard. »Erst rufst du bei Marshall’s an und danach gehst du bei Hoffman Drugs vorbei und schaust, was die brauchen. Deine Millennium-Promotion hab ich auf drei geschoben.« »Gut, das passt. Ich habe eine Verabredung zum Mittagessen um halb zwei.« »Sag’s ab. Ich führe dich aus. Auf der Melrose gibt es einen Laden, die machen diese wahnsinnig guten gefüllten Weinblätter. Wir treffen uns hier, wenn du von Hoffman zurück bist.« »Das ist wirklich sehr großzügig von dir, Ralph, aber ich habe es schon mal gesagt: Unsere Beziehungen sollte strikt professioneller Natur sein.« »Strikt klingt gut, wenn du das sagst. Professionell allerdings weniger.« »Schlägt dich deine Frau eigentlich manchmal?« »Marjorie? Soll das ein Witz sein? Die schlägt mich nicht mal beim Scrabble.« Bonnie suchte ihre Musterkartons zusammen und LeRoy von der Poststelle half ihr, das Zeug nach unten zu tragen. Er hatte Kopfhörer auf und tanzte förmlich zu Bonnies Auto. Nachdem sie den Kofferraumdeckel dreimal zugeknallt hatte, bis er richtig schloss, drehte sie sich um und fragte: »Was hören Sie da?« LeRoy zupfte einen der Stöpsel aus seinem Ohr und sah Bonnie an, als wäre sie ihm völlig unbekannt. »Was?« »Ich habe gefragt, was Sie da hören.« Er reichte Bonnie den Kopfhörer, und sie hörte sich kurz die Musik an. Techno-Dance-Beats, endlos wiederholte Riffs und eine Stimme, die wieder und wieder sang: »Wake up the dayyudd… you kill me bruvva… wake up the dayyudd…« Sie gab ihm den Kopfhörer wieder. »Ganz nett. Aber ich glaube, ich bleibe bei Billy Ray Cyrus.« Die Einkäuferin bei Marshall’s war eine kleine Frau namens Doris Feinman. Sie trug Schwarz und war so stark geschminkt, als würde sie bei einem chinesischen Wanderzirkus auftreten wollen. Nachdem sie Bonnies Lippenstiftproben auf ihrer Theke verteilt hatte, nahm sie sämtliche Kappen ab und brachte alles durcheinander. »Wie heißt dieser hier? Blood Orange? Interessanter Farbton, wirklich, aber meinen Sie nicht auch, das klingt ein wenig… menstrual?« »Die Namen kann man selbstverständlich ändern. Gar kein Problem.« »Na, das hört man gern. Auf Cranberry Climax stehe ich nämlich ehrlich gesagt auch nicht so. Wer denkt sich so was aus?« Statt zu antworten hielt Bonnie ihr gefrorenes Beinahe-Lächeln fest. Es war immer das Gleiche, ein Ritual. Weil Glamorex zu den kleineren Lieferanten gehörte, gab Doris Feinman ätzende Kommentare von sich und brachte ihre Muster durcheinander. »Diese Wimperntusche ist zu dickflüssig. Als ob die Frauen heutzutage noch wie Goldie Hawn aussehen wollten. Das hat doch so etwas Unterwürfiges, finden Sie nicht?« Das Lächeln machte Bonnie inzwischen echte Schwierigkeiten. Meine Güte, dachte sie, unterwürfige Wimperntusche. Nach anderthalb Stunden wusste Doris Feinman endlich, was sie wollte, und sie war bereit zu bestellen. Die 13.500 Dollar sollten Ralph halbwegs zufrieden stellen. Sie hatte allerdings nichts von der Millennium-Intensiv-Maske nehmen wollen. Sie hätte die Maske an einer ihrer Assistentinnen ausprobiert, sagte Doris Feinman, und die hätte danach wie eine Wasserleiche ausgesehen. Das Goodman-Apartment Sie war gerade auf dem Weg zu Hoffman Drugs, als ihr Pieper losging. Auf dem Display las sie die Nachricht: »Munoz 8210 De Longpre eilig«. »Scheiße«, sagte sie und bog links auf die Spaulding, dann rechts auf die De Longpre und sah schon aus der Entfernung zwei Streifenwagen und einen silbernen Oldsmobile mit aufgesetztem Blaulicht. Nachbarn und Passanten, die üblichen Hyänen, hatten sich schon eingefunden, als würden sie die unterhaltsamen Reste einer menschlichen Tragödie schon von weitem riechen. Sie stieg aus dem Wagen. Einer der Polizisten hob das Absperrungsband hoch, damit Bonnie darunter durchschlüpfen konnte. »Ah«, sagte er, »die Putzfrau, stimmt’s? Na, den Job will ich nicht für alles Geld, Süße.« Bonnie zeigte ihm den Finger. Eine steile Asphaltrampe führte zur Garage des Hauses. Das Haus selbst war ein ockerfarbenes zweistöckiges Gebäude mit stuckverzierter Fassade. Eine mit roten Platten ausgelegte Treppe führte zum Haupteingang. Am Geländer vor der Tür lehnte Lieutenant Dan Munoz, rauchte eine grüne Zigarre und unterhielt sich mit Bill Cliff vom Büro des Untersuchungsrichters. Bonnie stieg die Treppe hinauf und wurde von Dan begrüßt. »Hallo, Bonnie. Das ging aber schnell.« Dan war ein sehr gut aussehender Mann. Fast lächerlich gut aussehend für einen Polizisten: mit dichten haselnussbraunen Locken und dem Kinn eines Leinwandhelden. Und Bonnie fürchtete sich geradezu vor seinen braunen, glänzenden Augen. Diese Augen schienen sie vollkommen zu durchschauen, sahen alles – von dem Rezept, dass sie für das Abendessen im Kopf hatte, bis zur Waschanleitung in ihrem Höschen. Dan trug einen blauen Seidenanzug und dazu eine rot-gelbe Krawatte. Er duftete nach Giorgio-Aftershave. Ein piekfeines Dinner wäre dem Aufzug angemessener gewesen als eine Tatortbesichtigung. Bill Clift war das Gegenteil von Dan: sommersprossig und schmuddelig. Sein grauer Leinenmantel hing wie ein Sack an seinem Körper, und seine Brille war offenbar so oft zerbrochen, geklebt, wieder zerbrochen und wieder geklebt worden, bis er einfach so viel Heftpflaster um die Brücke gewickelt hatte, dass nichts mehr passieren konnte. Dan legte einen Arm um Bonnie und drückte sie herzlich. »Wenn du dich noch ein bisschen mehr beeilst, kannst du das nächste Mal die Teppiche schon aufrollen, bevor sie sich gegenseitig umbringen.« Bonnie deutete zur Haustür, die einen Spalt offen stand. »Um was geht’s?« »Komm rein. Ich zeig’s dir.« »Lieber nicht. Eigentlich hab ich gerade keine Zeit. Ich hab nur vorbeigeschaut, weil ich sowieso in der Nähe zu tun hatte.« »Das ist ein richtiger Schocker, ehrlich. Drei Kinder. Vier, sieben und neun. Das Ganze lief wohl so: Die Mutter fährt zu ihren Eltern in San Clemente. Das Kindermädchen hat frei. Der Vater nimmt seine Schrotflinte, geht ins Kinderzimmer und erschießt sie aus nächster Nähe. Danach geht er wieder ins Wohnzimmer, steckt sich die Flinte selbst in den Mund und streicht die Tapete mit seinem Hirn neu.« »Du lieber Gott«, sagte Bonnie. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, warum er es getan hat?« »Wahrscheinlich ist ihm einfach die Sicherung durchgebrannt. Er hat keinen Abschiedsbrief oder so was hinterlassen.« »Wo ist die Mutter?« »Immer noch da drin.« Er schlug sein Notizbuch auf. »Mrs Bernice Goodman, sechsunddreißig. Darum hab ich dich auch angerufen. Heute Nacht geht sie zwar erst mal zu Freunden, aber es ist ihr ziemlich wichtig, dass die Wohnung schnellstmöglich sauber gemacht wird.« Bonnie zögerte. »Okay«, sagte sie dann, »dann seh ich mir das einmal an. Und du und deine Leute, ihr seid hier fertig?« »Klar. Wir sind fertig. Bist du fertig, Bill?« »Alles in Tüten. Von mir aus können wir.« Dan schob Bonnie durch die Haustür in eine L-förmige Diele. An den Wänden hingen gerahmte Gruppenbilder von Bowling-Teams, die Mitglieder mit vom Blitz geröteten Werwolfaugen. Eine Ecke wurde von einem großen, eingetopften Kaktus eingenommen. Daneben stand ein Tisch mit einer Briefbeschwerersammlung aus Messing. »Hier rein«, sagte Dan. »Das Wohnzimmer – oder Sterbezimmer, wenn du so willst.« Bonnie blickte sich um. Die Wände des großen Raumes waren cremefarben gestrichen. Die waagerechten Lamellen der Jalousie waren geschlossen, sodass nur gedämpftes Licht hereinkam. Die Einrichtung bestand aus minimalistischen modernen Möbeln, cremefarbene Polster, ein Glastisch. Nur eine offenbar antike Vitrine in der Ecke schien nicht ins Bild zu passen. In der Vitrine waren Zinnbecher, Pokale und andere Bowling-Trophäen ausgestellt. Obwohl der Raum so schlicht war, strahlte er eine Atmosphäre aus, die Bonnie nach Luft schnappen ließ. Es war, als wäre sie in eiskaltes Wasser gesprungen. Wenn sie sonst an einen solchen Ort kam, lagen die schrecklichen Taten, die dort verübt worden waren, meist schon Tage oder gar Wochen zurück. Doch in diesem Raum wirkte das grausige Geschehen so nahe und überwältigend, dass sie sich umdrehen und einfach weggehen wollte. »Na, was denn«, sagte Dan, als könnte er ihre Gedanken lesen. An einer Wand hing ein großes abstraktes Gemälde. Blaues Dreieck mit weißem Quadrat und rotem Punkt. Ein Schild gab den Titel mit »Gelassenheit III« an. An der gegenüberliegenden Wand war ein roter Fächer mit pinkfarbenen Punkten. Blut und Hirnmasse. In der Mitte ein grobes, ovales Loch, so groß, dass Bonnie eine Faust hätte hineinstecken können. Um das Loch viele kleine schwarze Flecken. Schrotspuren. Die cremefarbene Ledercouch war über und über mit Blut beschmiert. Bonnie ging um die Couch herum und sah die dickflüssige rubinrote Pfütze auf dem weißen Teppich gleich dahinter. Nach dem Schuss musste das, was vom Kopf des Vaters übrig geblieben war, nach hinten gekippt sein. Wie eine große, mit Wasser gefüllte Vase, die man umkippte, hatte sich der Kopf auf den Boden entleert. Dan kam zu Bonnie herüber. »Der Mann hat ein Zeichen gesetzt, kann man wohl sagen.« Bonnie nickte. »Allerdings. Das ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen, oder? Frauen sind so rücksichtsvoll und bringen sich auf pflegeleichten Böden oder in der Badewanne um. Männer interessieren sich nicht für die Sauerei, die sie hinterlassen. Setzen sich im Wohnzimmer aufs Sofa und – peng.« »Klingt als würdest du das persönlich nehmen.« »Ja? Vielleicht. Der Schmerz, den man zufügt, reicht noch nicht. Mir kommt es so vor, als ob man es noch schlimmer macht, indem man sagt: Mein Leben ist nichts wert, unsere Familie ist nicht wert und das Heim, das wir uns aufgebaut haben, ist auch nichts wert. Ist also egal, wenn ich mein Hirn über die Tapete verteile.« Sie blickte zu ihm auf. »Ja, Dan, ich nehme das persönlich. Als Frau und als diejenige, die hier wieder sauber machen muss.« »Aber der Blutfleck da geht nicht mehr weg, oder?« Bonnie ging in die Hocke und fühlte die Beschaffenheit des Teppichs. »Ein Wolle-Nylon-Gemisch. Wolle saugt Blut auf und lässt es nicht mehr los, das ist das Blöde. Ich hab da einen neuen Reiniger auf Enzymbasis. Damit könnte ich’s versuchen. Aber ein brauner Fleck bleibt in jedem Fall zurück.« Sie erhob sich. »Kommt darauf an, wie die Witwe versichert ist, würde ich sagen. Und sonst kann man ja immer noch das Sofa über den Fleck schieben.« Dan sah sie fragend an. »Was denn?«, sagte Bonnie. »War nur ein praktischer Vorschlag.« »Na klar.« »He Dan, nicht jede Frau kann sich einen neuen Teppich leisten, nur weil ihr Verblichener so egoistisch war, sich im Wohnzimmer das Lebenslicht auszupusten.« »Na ja.« Kopfschüttelnd sah er sich im Raum um. »Aber man fragt sich doch, was in seinem Kopf vorging.« Bonnie deutete auf die Wand. »Das da war in seinem Kopf. Sieh es dir an.« »Und was sagt uns das jetzt im Allgemeinen und im Besonderen?« »Es sagt uns, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem, was wir sind und woraus wir sind.« »Und?« »Und nichts. Aber ich stelle erfreut fest, dass die Wandfarbe wahrscheinlich abwaschbar ist. Dann ist das Blut nicht bis zum Putz durchgedrungen.« »Na prima«, sagte Dan. Sie sahen sich an und wussten beide, dass ihre abgebrühte Flapsigkeit nur eine gut gespielte Nummer war. Es war unmöglich, nicht geschockt zu sein, wenn man in dieses Haus kam und sich ausmalte, was geschehen war. Das sanfte Licht, das Blut, die grauenvolle Leere. Das nicht enden wollende Gesumme einer einsamen Fliege. »Zeigst du mir jetzt die Kinderzimmer?«, fragte Bonnie. Die Kinderzimmer Linker Hand ging es durch einen Flur zum Elternschlafzimmer, Badezimmer und drei kleineren Zimmern. Im kleinsten stand ein Einzelbett, ein Schreibtisch und ein Bücherregal. An den Wänden hingen Poster von Brad Pitt und Beck. Das Fenster blickte auf die Garage des Nachbarhauses. Auf dem Garagendach lag ein platter Basketball. »Kindermädchen«, sagte Dan. Er führte Bonnie zum letzten Zimmer am Ende des Flurs. Das Kinderzimmer. Hier hatten der vierjährige Junge und das siebenjährige Mädchen geschlafen. Ein metallischer Geruch hing in der Luft – der Geruch frisch geronnenen Bluts. Der Raum war hübsch tapeziert, rosa Blumen auf blauen Streifen. Unter dem Fenster stand eine blaue Spielzeugkommode. Barbiepuppen, Puppenhausmöbel, Modellautos und Star-Wars-Figuren quollen aus den Schubladen. An den Wänden hingen Poster von Baumeister Bob. Es kostete Überwindung, das Stockbett anzusehen. Beide Kinder hatten schon friedlich in ihrer Disney-Bettwäsche mit Motiven aus dem König der Löwen geschlafen. Die Schüsse hatten die Bettwäsche in geschwärzte Fetzen verwandelt, die sich wie monströse Blüten öffneten. Hier und da begegnete Bonnie immer noch dem gütigen Blick des Löwenkönigs. Die Matratzen waren vollständig mit Blut getränkt, die Wand hinter dem Bett großflächig bespritzt, sogar die Decke sah aus, als hätte jemand rote Regenschirme aufgespannt. Dass die Kinder nie erfahren hatten, was sie ereilte, war kein Trost bei diesem Anblick. Bonnie hob eine Puppe auf und merkte zu spät, dass ein dünner Faden menschlichen Gewebes wie ein Spinnfaden auf ihrem Gesicht klebte. Weil Dan sie beobachtete, ließ sie sich nichts anmerken und legte die Puppe einfach wieder hin. »Wir zwei haben viel gemeinsam, weißt du das?«, fragte Dan. »Glaubst du?« »Vielleicht sollten wir mal was zusammen trinken, ein bisschen reden?« Bonnie drehte sich zu ihm um. »Was hätten wir denn zu bereden, Dan? Ich bin eine verheiratete vierunddreißigjährige Mutter. Meine Themen beschränken sich auf Kochen, Kosmetik und Putzen.« Er wollte etwas sagen, tat es aber nicht. Stattdessen drehte er sich um und ging voraus in das Zimmer der Neunjährigen. Pinkfarbene, geraffte Vorhänge. Ein kleiner Schminktisch mit Spielzeug-Flakons und -Tuben. In der Mitte des Tisches lagen ordentlich nebeneinander aufgereiht vier Lippenstifte, die das Mädchen wahrscheinlich von ihrer Mutter bekommen hatte. Bonnie nahm einen in die Hand. Es war »Shocking Red« von Glamorex. Das Bett war das gleiche blutige Chaos wie im anderen Zimmer, aber es schien, als sei der erste Schuss nicht tödlich gewesen. Es gab rote Fingerabdrücke an der Wand. Das Schafsfell vor dem Bett war blutgetränkt. Es sah aus wie ein frisch geschlachtetes Tier. »Er hat ihr die halbe Hüfte weggeschossen, aber sie versuchte trotzdem zu fliehen. Bis zum Fenster ist sie gekommen.« »Das sehe ich.« Sie sahen sich noch etwas im Zimmer um. Dann fragte Dan: »Kannst du das in Ordnung bringen?« Bonnie nickte. »Ich spreche erst mal mit der Mutter.« Verhandlungen Mrs Goodman saß am Küchentisch. Eine schwarze Polizistin, die neben Mrs Goodman stand, hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Mrs Goodman war dünn, hatte eine große Nase und streng zurückgekämmte Haare mit blonden Strähnchen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit Diamantbrosche. In der Hand hielt sie einen vollen Kaffeebecher, ihr starrer Blick war leer. Beim Eintreten in die Küche grüßte Bonnie die Polizistin mit einem kleinen Wink. »Hi Martha«, sagte sie gedämpft. »Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie geht es Tyce?« Dan beugte sich zu Mrs Goodman hinunter. »Mrs Goodman? Das ist die Spezialistin, von der ich Ihnen erzählt habe.« Auch Bonnie beugte sich vor. »Mrs Goodman? Mein Name ist Bonnie Winter. Wenn Ihnen das alles zu schnell und zu viel ist, sagen Sie es. Dann ruf ich Sie einfach später an. Lieutnant Munoz hat mir allerdings gesagt, dass Sie so schnell wie möglich wieder Normalität in Ihr Apartment bringen wollen.« Mrs Goodman reagierte zunächst nicht. Hob nicht einmal den Kopf. »Steht sie noch unter Schock?«, fragte Bonnie. »Sollte man sie nicht ins Krankenhaus bringen?« Da blickte Mrs Goodman endlich auf und sagte: »Nein, nein. Mir geht es gut. Ich möchte hier bleiben. Hier, wo meine kleinen Lieblinge gestorben sind. Ich will hier bleiben.« Bonnie zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich nah zu Mrs Goodman. Der sägezahnige Schatten einer Yuccapalme zeichnete sich hinter der Jalousie ab. Sie wiegte sich im Luftzug und erinnerte Bonnie aus irgendeinem Grund an einen nickenden Papagei. Behutsam nahm sie Mrs Goodman den Kaffeebecher aus der Hand und stellte ihn auf dem Tisch ab. »Was glauben Sie? Warum hat er es getan?«, fragte Mrs Goodman nach einer Weile. »Es gibt wohl nur zwei, die diese Frage beantworten könnten«, sagte Bonnie, »Ihr verstorbener Mann und Gott.« »Aber er liebte unsere Kinder so sehr. Ich glaube, er liebte sie mehr als ich. Er sagte immer, er sei so stolz auf sie, weil ich ihn so stolz machte und sie unsere Kinder wären.« »Niemanden kennt man so ganz«, sagte Bonnie. »Mein Mann zum Beispiel: Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht. Er ist mir ein totales Rätsel.« Mrs Goodman faltete ein Taschentuch auseinander und presste es sich unter die Augen. »Mein Vater hat immer gesagt, dass Aaron nichts taugen würde, dass ich zu gut für ihn sei und dass ich einen Anwalt oder Immobilienmakler hätte heiraten sollen. Einen, der viel Geld verdient, statt einen mit einer chemischen Reinigung.« »Hey, wo die Liebe hinfällt…« »Ich weiß. Aber ich weiß nicht, warum er es getan hat. Eine halbe Stunde, bevor es passiert ist, habe ich noch mit ihm telefoniert, und alles schien vollkommen normal zu sein. Er sagte, er wolle am Freitag am Stausee angeln gehen. Man redet doch nicht erst vom Angeln und tötet dann seine eigenen Kinder.« Bonnie nahm ihre Hand. »Mrs Goodman, ich kann mir wirklich nicht ansatzweise vorstellen, was Ihren Mann zu dieser Tat getrieben hat, aber ich kann hier für Sie aufräumen, damit sie möglichst bald wieder ein halbwegs normales Leben führen können.« Tränen liefen über Mrs Goodmans Wangen, und diesmal versuchte sie nicht, sie wegzuwischen. »Sie waren so wunderschön, meine Kleinen, so wunderschön. Mein Benjamin und meine Rachel und meine kleine Naomi.« Geduldig wartete Bonnie, während Mrs Goodman leise weinte. Nach einer Zeit, die ihr angemessen schien, schaute Bonnie auf ihre Armbanduhr. »Mrs Goodman, die wenigsten Menschen wissen, dass nicht die Polizei nach einer solchen Tragödie aufräumt und sauber macht. Das machen Spezialisten wie ich, und Sie müssen dafür zahlen. Aber es gibt nicht nur mich. Ich mache Ihnen gern einen Kostenvoranschlag. Wenn Sie wollen und denken, dass ich zu teuer bin, können Sie im Branchenbuch nach anderen Reinigungsfirmen suchen und vergleichen.« Mrs Goodman sah sie an, als hätte Bonnie Griechisch mit ihr gesprochen. »Sind Sie versichert, Mrs Goodman?«, fragte Bonnie. »Es tut mir Leid, dass ich jetzt so geschäftsmäßig klinge, aber ein Reinigungsauftrag wie dieser kann Sie teuer zu stehen kommen.« »Versichert?« »Hören Sie auf Bonnie«, sagte Dan, »sie kennt sich aus.« »Im Augenblick sind Sie ganz besonders angreifbar, Mrs Goodman, und es gibt eine ganze Menge Haie, die bald um sie herumschwimmen werden. Diese Leute sagen, sie erledigen alles für Sie, räumen auf, nehmen Ihre Rechte wahr, bringen Ihre Finanzen in Ordnung, regeln den Nachlass. Ich sage das alles wirklich in Ihrem Interesse.« »Aaron hat sich nie um Geld gekümmert. Was er hatte, hat er ausgegeben.« »Das glaube ich Ihnen, aber das hier könnte gut und gern fünfzehnhundert Dollar kosten. Ohne neue Teppiche und Möbel. Wahrscheinlich gibt es keine Probleme. Die meisten Hausratversicherungen übernehmen Schönheitsreparaturen nach Verbrechen. Wenn Sie mir die Nummer Ihres Versicherungsagenten geben, rede ich gleich heute Nachmittag mit ihm und kläre Ihren Anspruch.« »Versicherungsagent? Tja, ich weiß nicht. Aaron hat sich um solche Sachen gekümmert.« »Eile mit Weile. Ich gebe Ihnen meine Karte, und wenn Sie wissen, wer Ihr Versicherungsagent ist, rufen Sie mich einfach an.« »Machen Sie es? Machen Sie alles sauber, sodass es wieder aussieht wie vorher?« »So ziemlich, Mrs Goodman. Ja.« »Und was ist mit meinem Leben? Können Sie auch machen, dass mein Leben wieder aussieht wie vorher?« »Nein, Mrs Goodman, das kann ich nicht.« Mrs Goodman drückte fest Bonnies Hand. Ihre Finger waren eiskalt, es war, als würde eine Leiche ihre Hand festhalten. »Sagen Sie bitte Bernice zu mir?« »Bernice? Aber sicher, wenn Sie das gern möchten.« Gerade als Bonnie das Haus verlassen wollte, kamen ihr ein Mann um die dreißig mit einer jungen Mexikanerin entgegen. Er trug einen leichten Sommeranzug und sie ein ärmelloses blaues Kleid mit großen, schwarzen Blumen darauf. Der Mann war ein paar Zentimeter kleiner als Bonnie, hatte lockiges rotbraunes Haar und trug eine randlose Brille. Das Mädchen war höchstens siebzehn, hatte Aknenarben im runden Gesicht und trug einen Pferdeschwanz. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Dan. »Mein Name ist Dean Willits«, sagte der Mann, »ich bin ein Freund der Familie und möchte Mrs Goodman abholen. Das hier ist Consuela, sie braucht auch noch ein paar Sachen aus ihrem Zimmer.« »Ah ja. Mrs Goodman ist in der Küche, gehen Sie einfach durch. Ein Officer wird sich um Consuela kümmern.« Dean Willits sah sich zuerst im Wohnzimmer um. »Heilige Scheiße«, sagte er beim Anblick des Einschusslochs und den Blutfontänen an der Wand. »Ich hatte ja keine Ahnung…« Dan wurde ungeduldig. »Wir sollten jetzt wirklich Mrs Goodman hier rausbringen, meinen Sie nicht?« »Klar. Sofort. Tut mir Leid. Es ist nur… Aaron war wirklich ein guter Freund. Und ein toller Vater. Ein wirklich ganz toller Vater, ehrlich. Er hätte den Kindern kein Haar krümmen können.« »Na ja«, sagte Dan. Sie standen in der prallen Sonne vor dem Haus. »Tja, dann überlasse ich den Rest dir«, sagte Dan zu Bonnie. »Kein Problem.« »Irgendetwas beschäftigt dich doch, oder?« »Eigentlich nicht. Ich bin nur so ratlos wie Mrs Goodman: ein prächtiger Vater, der so sehr an seinen Kindern hing. Was um Himmels willen bringt ihn dazu, sie umzubringen?« Dan schüttelte den Kopf. »In solchen Fällen wird das wohl niemand je erfahren.« Bonnie duckte sich unter dem Absperrband der Polizei durch und ging zu ihren Wagen. Dan folgte ihr und hielt die Tür auf. Das Quietschen der Scharniere klang wie ein aufgeschrecktes Schwein. »Kann ich dich morgen vielleicht zum Essen einladen?« »Ich bin doch gar nicht dein Typ. Und außerdem, was soll ich Duke sagen?« »Du musst ihm gar nichts sagen. Wir leben im Zeitalter der sexuellen Gleichberechtigung.« »Quatsch. Wenn das das Zeitalter der Gleichberechtigung ist, warum hockt mein Mann dann faul zu Hause vor dem Fernseher, während ich mir in zwei Jobs die Hacken ablaufe?« »Dann mach mal eine Pause, Bonnie. Mach eine Pause. Atme mal tief durch.« »Entschuldigung Dan, aber gerade das versuche ich beim Beseitigen von Leichenresten zu vermeiden.« »Zynikerin.« »Lustmolch.« Mittagessen Im Green Rainbow an der Ecke Sunset und Alta Loma traf sie ihre Freundin Susan Spang. Bonnie brauchte mehr als zehn Minuten für ihre Bestellung, weil sie sich einfach nicht entscheiden konnte, während Susan unaufhörlich mit ihrer Gabel spielte. Schließlich nahm Bonnie: Lauwarmen Rotkohl mit Chorizo, grünen Oliven und Ziegenfrischkäse ein kleines Beefsteak mit gebratenen Babymaiskolben und Chiliflocken Gegrillte Feigen Evian Stilles Wasser Lauwarmen Rotkohl mit Chorizo, grünen Oliven und Ziegenfrischkäse(674 Kalorien) ein kleines Beefsteak mit gebratenen Babymaiskolben und Chiliflocken (523 Kalorien) Gegrillte Feigen (311 Kalorien) Evian Stilles Wasser (0 Kalorien) Die Bedeutung der menschlichen Tragödie Sie kannten sich seit Schulzeiten. Damals waren sie die besten Freundinnen gewesen, beinahe wie Geschwister, und beide hatten davon geträumt, eines Tages Filmstars zu werden. Sie hatten sogar Sterne aus Alufolie gebastelt, ihre Namen darauf geschrieben und sie auf den Hollywood Boulevard gelegt. Bonnie nannte sich auf ihrem Stern »Sabrina Go-lightly« und Susan war »Tunis Velvet«. Inzwischen sahen sie sich noch drei- oder viermal im Jahr. Bonnie wollte die Freundschaft nicht einfach beenden, obwohl sie sich eigentlich nicht mehr viel zu sagen hatten. Den Kontakt zu Susan abzubrechen wäre, als würde man endgültig den Kontakt zu seinen Jugendträumen abbrechen und sich eingestehen, dass man niemals einen Millionen-Dollar-Brillantring oder ein pinkfarbenes Haus in Bei Air besitzen würde. Außerdem war Susan die einzige Freundin, die nicht nur über Shopping, Kinder und Kochen redete. Susan war groß, schlank und beeindruckend, mit ihrem langen schwarzen Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, dem schmalen Gesicht und den großen dunklen Augen. An diesem Tag trug sie ein kurzes lilafarbenes Kleid mit applizierten silbernen Sternen und einen Hut aus Fellimitat, der aussah, als hätte es sich ein haariger mittelalterlicher Zwerg auf ihrem Scheitel bequem gemacht. Susan hatte ihre langen Beine unter einem Ecktisch gekreuzt und wartete schon auf Bonnie. »Liebes, du siehst so geschafft aus«, war das Erste, was sie sagte. »Danke. Bin ich auch.« »Bitte schleif den Stuhl nicht so über den Boden, ich habe heute meine Kopfschmerzen.« »Oh, das tut mir Leid. Vielleicht hättest du absagen sollen?« »Absagen? Auf keinen Fall. Ich wollte dich unbedingt sehen. Ich muss mal wieder mit einem Menschen zusammen sein, der mit beiden Füßen auf dem Boden steht.« »Tu ich das? Sollte mich freuen.« »Ja, das tust du. Darum geht es ja eben. Du stehst auf dem Boden der Tatsachen. Das war schon immer so. Keine Ahnung, wie du das so hinkriegst.« »Ich hab auch keine Ahnung.« Ein chinesisch-stämmiger Amerikaner mit grüner Schürze kam an ihren Tisch und betete die Tageskarte herunter. Susan unterbrach ihn: »Sangchi Ssam, was ist das?« »Ein von der koreanischen Küche inspiriertes Gericht mit ziemlich scharf gewürztem Hackfleisch und Tofu auf Radicchio und Minze an einer frischen Chilisauce.« Ein Königreich für einen Hamburger, dachte Bonnie. Aber diesmal hatte Susan das Restaurant ausgesucht. Susan spülte ein Ibuprofen mit Evian hinunter. »Ich kann einfach kein Perrier mehr trinken«, sagte sie, »es erinnert mich einfach zu sehr an Clive.« »Wie geht’s Clive eigentlich?« »Ach, der ist immer noch mit diesem Teenager mit Plastiktitten zusammen. Den solltest du mal sehen. Oder vielleicht lieber doch nicht. Er hat sich das Haar blond färben lassen. Sieht aus wie ein Alien. Andererseits sah er ja schon immer so aus.« »Duke geht’s gut«, sagte Bonnie ungefragt. »Und Ray? Der muss doch inzwischen zwei Meter sein, oder? Will er immer noch Wrestler werden?« Bonnie schüttelte lächelnd den Kopf. Plötzlich schien es ihr, als würde die Zeit an ihr vorbeifliegen. »Und das Geschäft?«, fragte Susan mit einer Grimasse des Ekels. »Gut. Läuft wirklich gut. Morgen haben wir einen natürlichen Tod und am Freitag zwei Selbstmorde. Das ist ein Ding, mit dem natürlichen. Der Typ ist in der Badewanne gestorben und sie haben ihn erst gefunden, als sein Körperfett die Wasserleitung verstopft hat. Das war nach beinahe acht Wochen.« »Mein Gott, Bonnie. Ich verstehe nicht, wie du so was machen kannst. Wirklich nicht. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich… würde wahrscheinlich kotzen. Und in Ohnmacht fallen. Erst kotzen und dann in Ohnmacht fallen.« »Irgendjemand muss das ja erledigen. Die Polizei kümmert sich nicht darum, die Gerichtsmedizin auch nicht und die Stadt oder das County erst recht nicht. Das ist eine Dienstleistung, sonst nichts.« »Ich darf nicht einmal daran denken«, sagte Susan. »Allein schon der Geruch! Bei uns ist mal ein Koyote in der Garage verreckt.« Bonnie zuckte nur mit den Achseln. »Ein bisschen Wick auf die Oberlippe, dann geht’s schon.« Susan erschauderte. Beim Essen klingelte Bonnies Mobiltelefon. Dean Willits war dran. Weil er gerade auf dem Ventura Freeway fuhr, war die Verbindung schlecht. »Ich habe mit Mrs Goodmans Versicherungsagenten gesprochen und der sagt, Sie sollen loslegen. Der Typ hat Frears angerufen und gemeint, er kennt Sie.« »Na wunderbar, Mr Willits. Morgen Nachmittag sollte ich es einplanen können.« »Frears hat die Schlüssel, okay?« Bonnie wollte sich wieder ihrem Beefsteak widmen. Sie steckte ein Stück Fleisch und eine Gabel mit Mais in den Mund und begann zu kauen. Es schmeckte zäh und fettig, der Mais war nicht durch, sie musste plötzlich an die Betten der Kinder denken, die blutigen, zerfetzten Decken, und sie konnte einfach nicht schlucken, sondern spuckte, was sie im Mund hatte, in ihre Serviette. »Was ist los«, fragte Susan. »Du bist plötzlich so – blass.« »Ich musste nur an etwas denken, was ich heute Morgen gesehen habe. Aber du isst noch, ich werde also nichts davon erzählen.« »Ich bitte dich, Susan. Dafür sind Freundinnen doch da. Du kannst mir alles erzählen.« Also beschrieb Bonnie, was sie im Haus der Goodmans gesehen hatte, und Susan saß da und schaute und nickte. »Das ist alles«, sagte Bonnie zum Schluss. »Ich weiß nicht, warum mich das mehr mitnimmt als andere Orte, die ich gesehen habe. Vielleicht ging es mir irgendwie wie Mrs Goodman. Die Kinder waren so… präsent, weißt du. Als ob man ihre Seelen noch spüren konnte.« »Du konntest wirklich ihre Seelen spüren?« »Ich weiß nicht… Irgendetwas habe ich gespürt. Als ob jemand da war, der eben eigentlich nicht da war, verstehst du? Es war beängstigend. Und bedrückend.« »Du hast wirklich ihre Seelen gespürt. Das ist toll. Verstehst du, was das bedeutet?« »Entschuldige, aber was meinst du?« »Das ist Seelenwanderung. Und dass du das spüren kannst, zeigt nur, wie sensibel und empfänglich du bist. Du solltest wirklich mal zu meinem Kabbala-Lehrer mitkommen. Er heißt Eitan Yardani. Der Mann hat mich erleuchtet. Er kann deinem Leben so viel Sinn geben, weißt du.« »Wovon redest du da, Susan?« »Von der Kabbala, natürlich. Einfach jeder beschäftigt sich damit. Madonna, Elizabeth Taylor. Die Kabbala hat alle Antworten zu deinem inneren Selbst. Da ist ein Gott, En Sof, der ist so hoch über dem menschlichen Geist, dass manche Kabbalisten ihn Ayin, Den-Der-Nicht-Ist, nennen.« »Aber die Kabbala, die ist doch jüdisch, oder? Ich bin katholisch.« »Na und? Ist Madonna jüdisch? Bin ich jüdisch? Was spielt es für eine Rolle, welcher Religion du angehörst, wenn du die allumfassende Wahrheit finden kannst? Die Kabbala lehrt uns, dass alles im Leben Bedeutung hat, und sei es noch so versteckt. Dass diese Kinder gestorben sind, hatte einen Sinn, Bonnie. Und du könntest diesen Sinn in den Schriften finden.« »Ich glaube nicht, dass ich den Sinn darin finden will.« »Aber du hast ihre Seelen gespürt, Bonnie. Du hast die Kinder gespürt. Das ist kabbalistisch. Vielleicht willst du es nicht wissen, aber was ist, wenn die Kinder es dir sagen wollen?« Bonnie wusste nicht, was sie sagen sollte. Susan war eine alte Freundin und nur das hielt sie davon ab, einfach die Gabel fallen zu lassen und zu gehen. Sie kannte Susans ständige Flirts mit dem Übersinnlichen. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie nicht aufgehört, vom Dalai Lama zu schwärmen, und im Frühling war Sufi das Höchste gewesen. Aber Benjamin, Rachel und Naomi waren vor kaum vierundzwanzig Stunden ermordet worden. Weder die Kabbala noch Tarot oder irgendetwas anderes konnte ihren Tod erklären, es gab nur eine Erklärung, und die war so klar wie abstoßend: Der Vater der Kinder hatte den Verstand verloren und sie erschossen. Das war alles. »Weißt du was, Susan?«, fragte Bonnie. »Du solltest mal mitkommen an den Tatort eines Mordes oder eines Selbstmordes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Blut so ein menschlicher Körper enthält.« »Ich sagte ja, ich müsste kotzen.« »Vielleicht. Und du würdest der Ewigkeit direkt in die Augen sehen ganz ohne Kabbala.« »Machst du dich jetzt lustig über mich?« »Überhaupt nicht«, sagte Bonnie und schob ihren Teller von sich. »Tut mir Leid. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Es war unfair.« Susan hackte in ihrem Thunfischsalat herum. »Du hast dich verändert, weißt du das? Früher warst du nicht so zynisch.« »Ich habe doch gesagt, dass es mir Leid tut.« »Dabei wollte ich dir nur helfen, Bonnie. Ich wollte dir nur zeigen, dass man das Leben auch bejahen kann, weißt du. Ich meine, du siehst alles immer so negativ.« »Was?« »Ich kann einfach nicht… Ich weiß nicht, wie… Du bist wie eine Fremde für mich.« »Wovon redest du? Was meinst du damit, dass ich wie eine Fremde bin?« »Früher hast du gelacht. Du hast eigentlich immer gelacht. Du warst wie ein Sonnenschein.« Bonnie kratzte sich verunsichert am Arm. »Ich lache doch jetzt auch noch.« Aber bei sich dachte sie: Wann? Wann habe ich das letzte Mal richtig gelacht? »Ich will dir nicht wehtun, aber es ist so de-pri-mie-rend mit dir.« »Ich deprimiere dich?« Susan presste ihre Hände flach auf die Tischdecke und sah Bonnie direkt an. Sie atmete kurz und stoßweise. »Ich sage dir jetzt etwas, Bonnie. Ich stehe dem Leben positiv gegenüber. Es hat Jahre gedauert, bis ich das Positive im Leben erkannt habe. Und mit Leben meine ich die Schöpfung, die Erfüllung, die Transzendenz.« »Klar. Verstehe. Geht mir auch so. Aber was willst du mir damit sagen?« Susan öffnete den Mund wie für eine große Verkündung, schloss ihn aber wieder. Sie war so erregt, dass sie beinahe zu hyperventilieren schien. »Du… du bist vom Tod umgeben. Ich konnte es spüren, als du das Restaurant betreten hast. Der Tod umgibt und begleitet dich wie… wie ein Kleidungsstück. Wie ein schwarzer Schleier. Und das ertrage ich einfach nicht mehr. Es tut mir Leid, aber ich muss dir einfach sagen, was ich empfinde. Du machst mir Angst und du deprimierst mich, Bonnie.« »Und? Bist du deshalb der Meinung, wir sollten uns in Zukunft nicht mehr treffen?« Susan löste sich langsam in Tränen auf. Mit einer schwachen Bewegung winkte sie ab, ehe sie die Faust an ihre Lippen presste. »Hör mal, Susan. Wenn wir uns nicht mehr treffen sollen, brauchst du es nur zu sagen. Ich will nicht als wandelnder Tod einen Schatten auf deine spirituelle Lebensbejahung werfen, wirklich nicht. Gott bewahre. Oder En Sof bewahre. Oder wer auch immer.« Der Kellner trat an den Tisch und starrte irritiert auf die praktisch unberührten Teller. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?« Susan fischte ein winziges Taschentuch aus ihrer winzigen Handtasche und putzte sich die Nase. »Ich übernehme das«, sagte sie, ohne Bonnie anzusehen, und legte ihre Platin American Express auf den Tisch. »Der Tod. Ich bin der Tod«, sagte Bonnie, während sie auf die Rechnung warteten. »Denkst du das wirklich?« »Tut mir Leid, Bonnie«, sagte Susan. »Ich habe Kopfschmerzen. Wahrscheinlich hattest du Recht, ich hätte einfach absagen sollen.« Sie stand auf und Bonnie hielt sie am Ärmel fest. »Sehen wir uns wieder?« »Bestimmt«, flüsterte Susan, aber Bonnie wusste, dass das eine Lüge war. Sie blieb sitzen, während Susan das Lokal verließ. Als sie den Sunset Boulevard im Laufschritt überquerte und ihr Haar zurückwarf, sah Bonnie sie zum letzten Mal. Ein Moment, eingefroren wie auf einem Polaroid. Sie musste an all die Tage und Nächte denken, die Parties und Bus-Trips, den Spaß und die Verzweiflung des Teenagerlebens. Am Venice Beach hatten sie sich sogar einmal geküsst. Sonnenuntergang. Die Schreie der Möwen. Sie liebten sich. Love, ageless, seldom seen by two. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte der Kellner. »Nein, danke«, sagte Bonnie. »Ich fürchte, dass, was ich brauche, haben Sie hier nicht.« Auf dem Hollywood Boulevard parkte sie in zweiter Reihe vor dem Super Star Grill. In dem mit Kacheln und Chrom dekorierten Raum dröhnte Meatloafs »Bat Out Of Hell« aus den Lautsprechern. Bonnie kaufte sich einen Mega-Chili-Hotdog mit extra Zwiebeln und Kraut und machte ein schöne Sauerei in ihrem Auto. Während sie aß, betrachtete sie sich im Rückspiegel. Das ist also der Tod, dachte sie. Eine 34-Jährige mit Chilisoße im Gesicht. Sie stopfte den letzten Bissen in den Mund und fuhr mit klebrigen Händen los. Schon an der Vine Street konnte sie vor Tränen kaum noch die Straße sehen. Duke entschuldigt sich Das Dutzend Rosen, das auf dem Küchentisch verwelkte, hatte Duke ihr gekauft. Er trug ein ausgebleichtes schwarzes Harley-Davidson-T-Shirt, als er aus dem Garten ins Haus trat und noch den Rauch von seiner letzten Zigarette ausblies. Sie wollte nicht, dass er im Haus rauchte. »Es tut mir Leid, okay?«, sagte er. Sie stellte die Einkaufstüten auf die Anrichte. »Was tut dir Leid? Jeder hat mal einen freien Tag verdient.« »Das mit diesem mexikanischen Hühnchen. Das war…« »Idiotisch? Allerdings. Aber das war gestern und heute ist heute und danke für die Blumen. Was haben sie dir dafür abgeknöpft?« Duke zuckte mit den Achseln und stellte sich dumm. »Die waren sozusagen… na ja, ich hab nicht viel gezahlt.« »Wie viel ist nicht viel?« »Umsonst, okay?« Bonnie nahm den Strauß vom Tisch. »Du hast ein Dutzend Rosen umsonst gekriegt? Hast du die von einem Grab geklaut, oder was?« »Rita drüben im Blumenladen. Ich hab ihr von dieser Geschichte erzählt und sie hatte wohl irgendwie Mitleid.« »Bitte? Und jetzt weiß Rita, dass wir uns über Hühnchen mexikanisch gestritten haben? Wem hast du’s denn noch erzählt? Jimmy vom Fernsehgeschäft vielleicht? Karen in ihrem Schönheitssalon? Und wenn ich das nächste Mal einkaufen gehen, stecken die ganzen Glucken die Köpfe zusammen und singen »La Cucaracha.« Duke schlug mit der Faust auf die Spüle. »Warum musst du immer so verdammt witzig sein, hä? Warum kann ich nicht einmal etwas sagen, ohne dass du einen beschissenen Sketch daraus machst. Ich hab Rosen für dich gekauft, um dir zu sagen, dass es mir Leid tut, oder? Die Rosen kamen von Herzen. Und was sagst du? >Hast du die von einem beschissenen Grab geklaut?«< Vorsichtig legte Bonnie die Rosen wieder auf den Tisch. Es war schon nach sieben, und sie hätte schon längst mit dem Kochen anfangen sollen. »Gestern um diese Zeit haben sich drei kleine Kinder gerade bettfertig gemacht«, sagte sie. »Was?«, sagte Duke. Er war offenbar völlig verwirrt. »Was für Kinder?« »Eines war neun, eines sieben und eines vier Jahre alt. Ich kenne sogar ihre Namen.« »Na toll. Wovon zum Teufel redest du da eigentlich?« Sie blickte auf die Küchenuhr. »Das war gestern. Heute sind sie tot.« »Was?«, sagte Duke wieder. Bonnie kam zu ihm, legte ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. »Hey, ich krieg keine Luft.« »Du musst dich nicht entschuldigen und mir keine Blumen schenken oder irgendwas tun. Ich bin schuld. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« »Du arbeitest einfach zu viel, das ist alles. Warum hörst du nicht mir der Putzerei auf. Das ist doch wirklich keine schöne Arbeit. Wir brauchen die Kohle, das ist mir klar, aber wir könnten dann ja auch den Pick-up verkaufen und so käme dann auch ein bisschen was rein. Und weißt du, was ich noch mache? Ich besorg mir einen Job, okay? Ich schwör’s. Egal, was. Ich führ Hunde Gassi, wenn’s sein muss. Ich mach alles, ich schwör’s.« »Ich dachte, du kannst Hunde nicht ausstehen.« »Wollen mir ja nicht alle in den Arsch beißen wie dieser Riesenschnauzer.« Bonnie musste lachen. Das erste Mal an diesem Tag. Der nächste Morgen Sie stand nackt auf den kalten Badezimmerfliesen vor dem Spiegel. Größe: Eins vierundsechzig Wunschgewicht: Sechsundsechzig Kilo Realgewicht: dreiundsiebzig Kilo Ray klopfte an die Tür. »Bist du bald fertig, Mom? Ich verpass noch den Bus.« »Ich fahre dich.« Es war, als müsse sie sich ansehen, um sich davon zu überzeugen, dass es sie überhaupt gab. Putzen Zwei ihrer drei Teilzeitkräfte, Ruth und Esmeralda, halfen ihr an diesem Tag. Jodie hatte sich den Arm verbrannt und fiel zwei Wochen aus. Ruth trug einen kirschroten Trainingsanzug und hatte sich die Haare mit einem gelben Gummi streng zurückgebunden. Esmeralda war eine untersetzte, schweigsame Mexikanerin. Mit den dunklen Ringen unter ihren Augen sah sie aus, als hätte sie seit Wochen nicht mehr geschlafen. Wie gewöhnlich trug sie auch an diesem Tag Schwarz, und ihre schwarzen Schnürschuhe quietschten nervtötend auf dem Küchenfußboden. Zusammen rollten sie den Teppich im Wohnzimmer ein. Dafür mussten sie die Couch anheben, die so schwer war, dass sie danach ganz außer Atem waren. »Ich bin langsam zu alt für diese Arbeit«, schnaufte Ruth. »Du musst einfach ein bisschen mehr trainieren. Warum kommst du nicht endlich mal zu meiner Tai-Chi-Chüon-Gruppe?« »Warum sollte ich da hingehen, du gehst ja auch nicht hin.« »Ich war letzte Woche. Oder die Woche davor? Egal. Man muss sich eben die Zeit dafür nehmen, aber immer geht’s nicht. Ich hab einfach so viel zu tun.« Esmeraldas Stimme klang angespannt, als sie sagte: »Der Fleck hier geht durch bis aufs Parkett.« Bonnie sah sich die Stelle näher an. Aaron Goodmans Blut war durch das Teppichgewebe und die Unterlage gedrungen und hatte einen kunstvollen braunen Fleck auf dem Holz hinterlassen. Wie ein Rorschach-Test, dachte sie. »Das ist Eiche, also sollten wir das meiste mit Sodiumperborat rauskriegen.« Esmeralda bekreuzigte sich. »Ich fang dann wohl mal besser mit der Wand an.« »Bis du sicher? Das ist aber echt ekelhaft.« »Nein, kein Problem, ich mach die Wand.« »Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Bonnie. »Ich habe Schmerzen im Knie und kann es nicht gut beugen.« »Das meine ich nicht. Du hast dich bekreuzigt.« Esmeralda sah sie mit leerem Blick an und machte dann eine wegwerfende Geste. »Aus Respekt vor den Toten. Das ist alles.« »Okay… Also, Ruth macht den Boden und ich fange mal mit den Betten an.« Anderthalb Stunden lang zischte Bonnies Dampfreiniger im Schlafzimmer und dröhnte Ruths Staubsauger im Wohnzimmer und dem Rest der Wohnung. Esmeralda schrubbte energisch im Rhythmus an der Wand. Normalerweise sang Bonnie bei der Arbeit. »Love, ageless and evergreen…«. Aber in Naomis Schlafzimmer verstummte sie. Sie konnte die blutigen Handabdrücke über dem Bett nicht ansehen, aber wegwischen konnte sie sie auch nicht. Es schien ihr fast, als würde sie durch das Tilgen dieser Spuren auch die letzten schmerzhaften und verwirrten Momente in Naomis Leben auslöschen. Als hätte all das nie stattgefunden. Bonnie überlegte, welche letzten Gedanken Naomi über ihren Vater hatte, als sie auf allen vieren über den Boden kroch. Die Vorstellung, dass sie ihn vielleicht um Hilfe angefleht haben könnte, war unerträglich. Mit Lappen und Desinfektionsspray in den Händen kam Esmeralda in den Raum. »Ich bin fertig mit der Wand«, sagte sie. Und dann wischte sie ohne zu zögern Naomis Fingerabdrücke weg. Bonnie stellte den Dampfreiniger ab und wartete bis das Gurgeln verebbt war. »Dann kannst du schon mal mit der Couch weitermachen.« »Will sie etwa die Couch behalten?« »Das Ding kostet locker tausend Dollar.« »Ich könnte meine Couch jedenfalls nicht behalten, wenn sich mein Mann darauf umgebracht hätte. Selbst wenn sie zehntausend Dollar gekostet hätte. Das wäre ständig so, als würde ein toter Mann neben einem sitzen.« »Tja, das werde ich Duke wohl erzählen, wenn die Playoffs wieder losgehen.« Der Raum war warm und stickig und es stank nach feuchtem Teppich. Bonnie schob das Fenster weit auf. Auf dem Sims stand in einem Terrakottatopf ein kleiner Feigenbaum, den Bonnie vorsichtig zur Seite schob, damit er nicht von den Vorhängen heruntergerissen würde. Etwas Schwarzes, Glänzendes fiel von einem Blatt. Es krümmte sich. »Uäh!«, machte sie und trat einen Schritt zurück. »Was?« »Eine Made oder so was. Ist gerade aus der Pflanze gefallen.« Esmeralda kam zu Bonnie herüber und starrte in die Pflanzenerde. Eine fette schwarze Raupe begann gerade an der Pflanze emporzukrabbeln. Ihr Körper wand sich bei jeder Bewegung. »Das ist ja ekelhaft«, sagte Bonnie. »Schau! Da sind noch mehr.« Am Topfrand drängten sich halb verborgen noch fünf Raupen. Sie schienen alle ununterbrochen zu fressen, sodass die Ränder der Feigenblätter fein ausgefranst waren. Esmeralda bekreuzigte sich zweimal. »Warum machst du das ständig?«, fragte Bonnie. »Ich hasse diese Dinger. Sie sind des Teufels.« »Das sind nur Raupen. Die tun dir doch nichts.« »Ich hasse sie. Besonders die schwarzen. Die bringen nur Unglück.« »Du bist so was von abergläubisch, Esmeralda. Noch schlimmer als Ruth. Aber wenn du sie so hasst, dann hol das Permethrin-Spray und kill sie. Mrs Goodman wird jedenfalls kaum begeistert sein, wenn sie sieht, was die Raupen mit ihren Feigen gemacht haben.« Bonnie warf noch mal einen Kontrollblick durchs Zimmer, um sicher zu gehen, dass sie nichts vergessen hatte. Naomis Bett war abgezogen, am Nachmittag würde sie dann den Rest abholen. Sie würde die Verkleidung abreißen und die Bettgestelle der Kinderwohlfahrt bringen. Eine warme Brise bewegte die Vorhänge, drückte sie gegen die Feigenstaude. Bonnies Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Raupen gelenkt. In ihrem Job hatte sie schon alle möglichen Arten von Maden und Raupen und Insekten gesehen, aber solche noch nie. Vielleicht waren die Eier schon in der Erde gewesen, als Mrs Goodman sie gekauft hatte, und jetzt waren sie gerade erst geschlüpft. Esmeralda kam mit dem Insektizid herein. »Moment noch«, sagte Bonnie. »Eine will ich behalten. Vielleicht kann mir Dr. Jacobson sagen, was das für welche sind.« Sie zupfte einen Einmalhandschuh aus einer Box und blies ihn auf. Dann hielt sie ihn unter ein Blatt, auf dem eine Raupe saß, und schüttelte den Zweig. Die Raupe hielt sich hartnäckig fest, bis Bonnie mit einem anderen Handschuh nachhalf und sie in den Handschuh schnippte. Die Raupe fiel in einen der Finger. Sie stopfte noch ein paar angefressene Feigenblätter dazu und verschloss den Handschuh. »Soll ja nicht verhungern, oder?« Esmeralda rümpfte die Nase. »Was willst du überhaupt damit?« »Ich bin einfach neugierig. Es liegt in meiner Natur, den Dingen auf den Grund zu gehen, das ist alles.« »Aber es bringt Unglück!« Esmeralda besprühte die Feige so lange von allen Seiten, bis Bonnie glaubte, in dem Raum ersticken zu müssen. Eine Raupe nach der anderen wand und krümmte sich, bis alle von den Blättern auf die Fensterbank gefallen waren. »Ich glaube fast, das macht dir Spaß«, sagte Bonnie. »Allerdings. Ich kann nicht anders«, sagte Esmeralda und hielt den Spraystrahl voll auf eine noch lebende Raupe. »Da! Stirb, du widerliches Drecksvieh.« Bonnie ging wieder hinüber ins Wohnzimmer. Sie waren fast fertig. Mithilfe eines kräftigen Mannes, den sie an der Ecke Hollywood und Highland angeheuert hatten, war der große Teppich in handliche Stücke zersägt und auf Bonnies Pick-up verladen worden. Die Wände waren sauber. Nur das Einschussloch der Schrotflinte zeugte noch von dem Geschehen. Bonnie besserte solche Schäden nicht aus, dafür empfahl sie Kollegen. Die cremefarbene Ledercouch war fleckenfrei, aber die Oberfläche wirkte angegriffen und matt. Der metallische Gestank des Blutes war von einem antiseptischen Geruch verdrängt worden, ein bisschen wie beim Zahnarzt. Ruth hatte überall gesaugt, aber nicht poliert. »Wir putzen, wir reinigen, aber wir sind keine Hausmädchen.« An der Stelle, an der Aaron Goodman sein Blut vergossen hatte, sah man noch wie einen Schatten den Umriss der Lache. Nur durch ein Austauschen der Bohlen würde man den Rest dieses Fleckens wegbekommen. Bonnie ging um den Restfleck herum und schien nicht sehr glücklich. »Besser kriegen wir das nicht hin?« »Ist tief ins Holz eingedrungen. Ich hätte da noch eine stärkere Lauge, aber ich fürchte, die bleicht das Holz aus.« Bonnie ging immer weiter um den Fleck herum. Sie wusste nicht, warum sie nicht aufhören konnte, ihn anzustarren. Irgendetwas beunruhigte sie. Es war, als würde die Erinnerung an ein Lied, eine Warnung vielleicht, sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Form. Es war die Form des Flecks. Er sah aus wie eine große Blume – oder wie eine gigantische Motte. Am selben Abend Erschöpft und verschwitzt kam Bonnie an diesem Abend nach Hause. Ruth und sie hatten sich nicht nur um das Goodman-Haus, sondern auch noch um eine natürliche Todesursache in Westwood kümmern müssen. Eine Frau Mitte achtzig war friedlich im Schlaf gestorben und erst nach neun Wochen gefunden worden. Ihr Sohn, ein kleiner untersetzter Mann mit pechschwarzem Toupet, rannte die ganze Zeit rastlos durch die Wohnung, während Bonnie und Ruth arbeiteten. Und ständig blickte er auf seine Armbanduhr. Bonnie hatte der Versuchung widerstanden und ihn nicht gefragt, warum er seine Mutter in neun Wochen nie angerufen hatte. »Ich wohne in Albuquerque«, hatte er ungefragt geantwortet, als sie am Ende ihre Eimer und Flaschen und Planen wieder verluden. Bonnie blickte ihn stumm und verbissen an. Ach so, dachte sie. Und in Albuquerque gibt es ja keine Telefone, oder was? Auf dem Heimweg dachte sie: Ich hätte ihm die Bettdecken seiner Mutter zeigen sollen. Sie trat ins Wohnzimmer. Duke schaute gerade Baseball. Bonnie küsste ihn auf den Kopf. Unwillkürlich strich er sich mit den Fingern die Frisur wieder zurecht. »Wie war dein Tag, Schatz?«, fragte sie und setzte sich auf die Lehne seines Sessels. »Ganz gut, glaub ich. Ich hab mit Vincent vom Century Plaza gesprochen. Er hat vielleicht einen Job an der Bar für mich.« »Na prima. Und was würdest du da machen? Cocktails mixen und so? Ein Frozen Daiquiri? Kommt sofort! Und für Madame eine Pina Colada.« »Nee. Vor allem eindecken und abräumen und so.« Bonnie gab ihm noch einen Kuss. »Aber es ist ein Job, stimmt’s? Und damit auch ein Anfang.« »Klar, ein Anfang«, sagte er und beugte sich zur Seite, um an ihr vorbei das Spiel sehen zu können. Bonnie duschte und zog sich ein gelbes Kleid mit einer gelben Kette an. Ihre Glücksfarbe. In der Küche nahm sie sechs Hühnerschenkel aus dem Tiefkühlschrank. »Frittiertes Hähnchen okay?« »Mit Soße?« Für einen Augenblick musste sie an den Blutfleck auf dem Boden des Goodman-Wohnzimmers denken. »Ja, mit Soße.« Sie streute Mehl auf einen großen, flachen Teller und gab Salz, Pfeffer und Chilipulver dazu. »Ist Ray schon zu Hause?« »Ray? Nee, noch nicht.« »Hat aber nicht gesagt, dass es später wird, oder?« »Mir hat er gar nichts gesagt.« »Ralph will, dass ich morgen nach Pasadena fahre.« »Pasadena? Was sollst du denn in Pasadena?« »Da ist die Moist-Your-Eyes-Präsentation.« »Und erfährt bestimmt auch, unser Mister Unwiderstehlich, oder?« »Was hast du nur gegen Ralph? Immer reagierst du so eifersüchtig, wenn es um Ralph geht.« »Ich mag eben nicht, wie der Kerl dich ansieht. Und sag mir jetzt nicht, dass dir das noch nicht aufgefallen ist. Der zieht dich doch mit den Augen aus.« Mit mehligen Fingern ging Bonnie zur Wohnzimmertür. »Duke, ein für alle Mal: Ralph Kosherick ist mir egal. Ralph Kosherick war mir schon immer egal und Ralph Kosherick wird mir immer egal sein.« »Du benutzt seinen Namen dreimal in einem Satz und sagst mir, er ist dir egal?« Bonnie schaute auf ihre Uhr. »Warum Ray wohl noch nicht da ist? Ich wünschte, er würde anrufen.« »Ich kann es in seinen Augen sehen. Er macht dir praktisch den BH auf und zieht deinen Slip mit den Zähnen runter.« »Halt die Klappe, Duke. Ich bin nicht in der Stimmung für solche Sprüche.« Ray war nicht zur Essenszeit zu Hause, also saßen Bonnie und Duke zum Essen auf dem Sofa vor dem Fernseher. So wie damals, als sie frisch verheiratet gewesen waren. »Schmeckt gut«, sagte Duke ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Soße klebte ihm am Kinn. Nachdem sie fertig gegessen hatten, brachte Bonnie die leeren Teller in die Küche und nahm einen Schokoladenkuchen aus dem Kühlschrank. Für Duke schnitt sie ein großes und für sich selbst ein etwas kleineres Stück ab, das sie sich gleich in den Mund stopfte. Sie kaute noch, während sie die Essensreste in den Abfalleimer kratzte. Als sie mit Dukes Stück ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte sie geschluckt und sich schon den Mund abgewischt. »Nimmst du nichts?«, fragte er. »Du spinnst wohl. Das sind schon dreihundert Kalorien, wenn man nur dran denkt.« Duke zuckte nur mit den Achseln und biss in seinen Kuchen. Dann deutete er auf den Bildschirm. »Der Typ da. Der hat einen ganzen VW gegessen.« »Warum das denn?« »Was weiß denn ich, warum? Warum essen Leute Schokoladenkuchen?« Bonnie sagte nichts. Sie wusste, warum sie Schokoladenkuchen aß. Die Türglocke schreckte sie aus dem Tiefschlaf. Sie saß aufrecht im Bett und war sich für einige Augenblicke nicht sicher, ob sie wirklich etwas gehört oder nur geträumt hatte. Aber dann klingelte es erneut. Sie stieß Duke mit dem Ellenbogen an. »Duke. Wach auf«, flüsterte sie. Da ist jemand an der Tür.« Duke grunzte wie ein Schwein und rappelte sich schließlich hoch. »Was? Wie viel Uhr ist es?« »Fünf vor halb vier.« »Was soll die Scheiße?« Bonnie stieg aus dem Bett, nahm ihren Morgenmantel vom Haken an der Tür und ging aus dem Schlafzimmer. Vom Gang aus erkannte sie die roten und blauen Blinklichter auf der Straße vor ihrem Haus und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. »Duke!«, rief sie. »Duke! Das ist die Polizei.« Schnell lief sie zur Haustür. Zwei Polizisten in Uniform warteten draußen. Einer war ein Puertorikaner mit dünnem Schnurrbart, der andere war schwarz. »Mrs Winter?«, fragte der Schwarze und blendete sie mit seiner Taschenlampe. »Was ist passiert? Es geht um Ray, oder? Sagen Sie mir, was passiert ist.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Winter. Ihr Sohn wurde verletzt, aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er ist im Augenblick im Krankenhaus. Wir bringen Sie gern hin, wenn Sie wollen.« »Verletzt? Was meinen Sie mit verletzt?« Inzwischen hatte Duke in schwarzen Kniestrümpfen und kurzem rosa Bademantel den Weg zur Tür gefunden. »Was ist denn hier los?«, wollte er wissen. »Mr Winter? Ihr Sohn Ray wurde verletzt. Er ist gerade drüben im Krankenhaus zur Behandlung.« »Verletzt? Wie? War es ein Autounfall? Mein Sohn fährt noch gar nicht.« »Nein, Sir. Wie es scheint, wurde Ihr Sohn in eine ethnische Auseinandersetzung verwickelt.« Duke massierte sich verständnislos mit verkniffenen Augen die Nasenwurzel. »Ethnische Auseinandersetzung? Was heißt das in unserer Sprache? Meinen Sie einen Rassenkrawall?« »Nicht direkt einen Krawall, Mr Winter. Aber es geht um einen rassistisch motivierten Angriff, ja.« »Wie viele waren es?« »Wie bitte?« »Sie haben mir gerade gesagt, dass mein Sohn das Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs war, und ich möchte wissen, wie viele es waren?« »Ungefähr siebzehn, soweit wir wissen, aber Ihr Sohn war nicht…« »Siebzehn? Siebzehn Schwarze gegen einen weißen? Heilige Scheiße!« »Mr Winter. Ihr Sohn wurde nicht von siebzehn Afroamerikanern angegriffen. Ihr Sohn gehörte zu den siebzehn, die in den Kampf verwickelt waren. Elf Weiße und sechs Mexikaner. Keine Afroamerikaner. Alle Beteiligten trugen Verletzungen davon, meist Stichwunden und Quetschungen. Einer wird wohl ein Auge verlieren. Vierzehn sind nicht mehr in Behandlung. Drei, darunter Ihr Sohn, sind noch im Krankenhaus.« »Ray hat Mexikaner angegriffen? Haben wir das richtig verstanden?«, fragte Bonnie. Der schwarze Polizist nahm sein Notizbuch und schlug es auf. »Elf weiße Jugendliche betraten die X-Cat-Ik-Pool-Bar Downtown, kurz darauf begann die Schlägerei. Wir haben drei Messer, eine Machete und einen Baseballschläger sichergestellt. Unglücklicherweise behaupten alle Gäste der Bar, nichts gesehen zu haben, obwohl kein Zweifel daran bestehen kann, dass der eigentliche Angriff rassistisch motiviert war.« »Nein, das muss ein Irrtum sein. Mein Ray hat mit solchen Sachen nichts zu tun«, sagte Bonnie. »Das sind die Fakten, Mrs Winter.« Duke war rot angelaufen, Bonnie legte ihm einen Hand auf den Arm. »Sagen Sie uns einfach, wo er liegt, dann finden wir ihn schon selbst.« Der junge Held Ray lag in einem blassgrün gestrichenen Raum am Ende eines langen, widerhallenden Flurs. Eine Neonröhre in seinem Zimmer flackerte und machte ein penetrant summendes Geräusch wie eine gefangene Schmeißfliege. Sein Kopf war bis unter das Kinn in einen weißen Verband eingewickelt. Von einem Arm sah man nur dunkelrot verfärbte Fingerspitzen, der Rest war bis zur Achsel in Gips. Seine Augen waren gelb und rot und dick wie Pflaumen, seine Lippen in etwa wie mit rotem Gummi nachgeformt. Als Bonny und Duke eintraten, war eine asiatische Schwester mit nikotingelben Fingern gerade damit beschäftigt, bei Ray den Blutdruck zu messen. »Sind Sie beide die Eltern?« Bonnie nickte und ging um das Bett herum zu Ray. »Liebling, was ist denn bloß passiert?« »Gebrochenes Handgelenk, Prellungen, Schürfwunden, drei angebrochene Rippen, ein verstauchter Knöchel, drei gebrochene Zehen und eine leichte Gehirnerschütterung«, sagte die Schwester. »Hätte aber noch schlimmer kommen können.« »Es hätte schlimmer kommen können?«, sagte Duke. »Selbstverständlich. Immerhin wurde er mehrfach in den Unterleib getreten. Das hätte durchaus einen Riss des Zwerchfells zu Folge haben können. Ein weiterer Tritt traf ihn am Kopf hinter dem rechten Ohr. Für die nächsten Tage wird er da eine ziemlich große Beule haben.« Bonnie setzte sich aufs Bett und nahm Rays Hand. »Ray, was machst du denn für Sachen? Du bist doch nicht etwa in einer Gang, oder? Wir dachten, du würdest zum Essen kommen.« Duke stand nur stumm mit fest verschränkten Armen am Bett und machte dieses Ich-kau-nur-ganz-ruhig-meinen-Kaugummi-Gesicht, das er immer machte, wenn er dachte, dass es besser war, den Mund zu halten. »Es tut mir so Leid, Mum«, sagte Ray. »Ich hätte echt nicht gedacht, dass es so weit geht.« »Was hast du dir denn überhaupt dabei gedacht, zu dieser Bar zu gehen?« »Na, weil da die ganzen mexikanischen Kids rumhängen.« »Und? Haben die dir je was getan? Um Gottes willen, Ray. Die Polizei sagt, ihr hattet Messer und Baseballschläger dabei.« »Mum, das waren doch Mexikaner.« »Dann waren es eben Mexikaner. Ich verstehe es einfach nicht. Warum habt ihr die so brutal angegriffen?« »Weil die doch an allem Schuld sind.« »Entschuldige, wahrscheinlich bin ich einfach zu blöd, aber ich verstehe es immer noch nicht.« »Dann schau dir doch nur Dad an! Die kommen hierher und nehmen uns Amerikanern die Jobs weg, und darum sind doch alle arbeitslos.« »Du hast wildfremde Mexikaner verprügelt, weil andere wildfremde Mexikaner deinem Vater den Job weggenommen haben?« »Ja«, sagte Ray. Er musste husten und krümmte sich vor Schmerz. »Sieh dich doch an, Mum. Sieh euch beide an. Was ist aus euch geworden, weil Dad keinen Job hat? Dad frisst alles in sich rein, du musst Leichenreste aufkratzen, immer streitet ihr, und das alles nur wegen diesen Mexikanern.« Bonnie konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. »Was geht nur in deinem Kopf vor? Und wenn du jemanden umgebracht hättest? Dann würdest du jetzt für den Rest deines Lebens ins Gefängnis wandern. Oder jemand hätte dich umbringen können. Schau dich nur an. Viel gefehlt hätte nicht.« Bebend vor Wut stand sie auf. »Du bist mein Sohn, mein einziger Sohn, Ray. Und ich habe dich anständig erzogen, dir gezeigt, was richtig und falsch ist. Dass dein Dad seinen Job verloren hat, war unfair und vielleicht ging es auch nicht mit rechten Dingen zu. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, wahllos Mexikaner anzugreifen wie… wie ein verdammter Nazi. Das kann ich nicht akzeptieren, verstanden. Mein Sohn tut so etwas nicht. Ich warne dich, Ray.« Duke nahm ihren Arm und versuchte sie zurückzuhalten. »He Bonnie, mach mal halblang. Sieh ihn dir an, er ist doch schon bestraft genug.« »Denkst du das im Ernst? Dein Sohn ist mit Messer und Schläger losgezogen, um unschuldige Leute mit Vorsatz anzugreifen!« »He, also Moment mal, okay? Unschuldige Leute? Woher weißt du, dass sie unschuldig waren? Diese Mexikaner arbeiten alle schwarz, zahlen keine Steuern, verticken Drogen und schmuggeln alles mögliche Zeug. Die würden auch ihre eigene Schwester verkaufen, jedenfalls die meisten. Von wegen unschuldig. Und woher bist du dir überhaupt so sicher, wer hier wen angegriffen hat, hä?« Bonnie starrte ihn an. »Ich glaube einfach nicht, was ich da höre.« »Ich sag ja nur, dass du fair sein musst, Süße. Du kannst den Jungen nicht so angehen, wenn du nicht alle Fakten kennst.« »Fair? So langsam kapiere ich, worum es hier geht. Du bist stolz auf ihn, stimmt’s? Du bist wirklich stolz auf ihn. Für dich ist er so eine Art Held, was? Weil er dich verteidigt hat und du nie damit gerechnet hättest und jetzt bist du so verdammt stolz auf deinen Sohn.« »Bonnie, also…« »Vergiss es, Duke. Diesen bigotten Dreck hör ich mir nicht länger an. Ich geh nach Hause. Ray, hast du schon mit den Cops geredet?« Ray schüttelte nur stumm den Kopf. »Dann sprich mit niemandem ein Wort. Nicht mit den Cops, nicht mit den Ärzten, mit niemandem, verstanden? Warte, bis ich mit ein paar Leuten downtown geredet habe. Eigentlich sollte ich morgen in Pasadena sein, aber das kann ich absagen. Also kein Wort, klar? Und denk dran, den Schwestern zu sagen, dass du allergisch gegen Brokkoli bist.« Ray wandte sich ab. Bonnie war klar, dass er noch nicht bereit war, sich zu entschuldigen. Sein Vater grunzte etwas Ermutigendes und klopfte ihm auf die Schulter. Dann folgte er Bonnie aus dem Zimmer in den Flur. Erst im Fahrstuhl machte er den Mund auf. »Mein Gott, Bonnie. Das ist Amerika. Das hat dieses Land immer stark gemacht, dass man für seine Ideale kämpft. Heutzutage traut sich das nur keiner mehr, wegen all dieser beschissenen Minderheiten. Wusstest du, dass Dave Guthrie gerade seinen Job an so einen Tortilla-Fresser verloren hat? Warum klingeln die nicht einfach bei uns an der Tür und schleppen unsere Möbel raus?« »He, Davy Crockett, für heute reicht’s mir wirklich.« Ralphs Worte »Es tut mir wirklich Leid, Bonnie, aber wenn du diesen Trip nach Pasadena nicht machen willst, dann muss ich mir über kurz oder lang jemanden suchen, der verlässlicher ist. Verstehst du, was ich meine?« »Du schmeißt mich raus.« »Bonnie, ich muss mich einfach zu hundert Prozent auf meine Mitarbeiter verlassen können.« »Ralph, sei doch nicht so herzlos. Ray liegt zusammengeschlagen im Krankenhaus, und jetzt will ihn die Polizei auch noch für bewaffneten Überfall anklagen.« »Ich verstehe das, Bonnie, ich verstehe das wirklich sehr gut, aber bei dieser Reise geht es um Gewinn und Verlust.« »Es geht nicht, Ralph. Also wenn du mich rausschmeißen musst, dann musst du mich rausschmeißen, aber meine Familie hat Vorrang.« Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann sagte Ralph: »Ich bin enttäuscht, Bonnie. Du ahnst gar nicht, wie enttäuscht ich bin.« Was sie mit ins Krankenhaus nahm Auf dem Weg ins Krankenhaus hielt sie an einem kleinen Supermarkt und kaufte: - drei Pfirsiche - eine Mega-Flasche Dr. Pepper - eine Packung Rainbow-Chips Deluxe - eine Colgate-Zahnbürste mit Schwingkopf - eine Tube Zahnpasta - eine Box Menthol-Kleenextiicher - die aktuelle Ausgabe einer Fernsehzeitschrift, die sich auf Soaps spezialisiert hatte Herr der Fliegen Am Morgen wachte Bonnie fast eine Stunde an Rays Bett. Sein Gesicht war noch immer geschwollen, seine Prellungen hatten sich lila verfärbt. Weil er sich aber von der Gehirnerschütterung erholt hatte, wirkte er wesentlich lebhafter als am Tag zuvor. Ray sah fern, während Bonnie über ihre Kontakte zur Polizei herauszufinden versuchte, wer den Einsatz an der X-Cat-Ik-Pool-Bar geleitet hatte und ob Anklage erhoben werden würde. »Würdest du den Ton bitte leiser machen?«, sagte Bonnie und steckte sich einen Finger ins Ohr. »Was?« »Leiser. Den Ton. Ich versuche gerade, dir Ärger vom Hals zu halten.« Als der Akku ihres Mobiltelefons schon beinahe den Geist aufgab, bekam sie doch noch Captain O’Hagan in die Leitung. Außer »tja« und »mmh« und »gut, gut« sagte er nicht viel, aber am Schluss des einseitigen Gesprächs machte er doch noch ein Angebot. »Ich kann dir nichts versprechen, Bonnie, aber ich schau mir das Protokoll mal an und mach ein bisschen Origami damit, okay?« »Ich bin dir was schuldig, Dermot.« »Noch nicht. Aber wenn’s so weit ist, kannst du deinen süßen Hintern drauf verwetten, dass ich’s auch eintreibe.« Sie klappte ihr Telefon zu. »Okay Ray, das wär’s. Vielleicht kommst du doch mit einem blauen Auge davon.« »Danke Mom. Echt toll. Kommt Daddy heute vorbei?« »Er wollte zumindest, aber heute Morgen hat er noch ein Vorstellungsgespräch. Als Barkeeper drüben im Century Plaza.« »Ohne Witz?« Bonnie lächelte, erhob sich vom Bett und blickte für einige Augenblicke auf Ray hinunter, der sich wieder dem Fernsehen zugewandt hatte. Kennt man seine Kinder? Oder denkt man nur, sie seien wie man selbst? In Ray steckte viel von Duke. Vielleicht mehr, als Bonnie sich je eingestanden hatte. Sie küsste ihn sanft auf die Wange und verließ den Raum. Er reagierte nicht, sagte nicht einmal auf Wiedersehen. Sie fuhr zur Universität von Los Angeles. Weil die Morgenluft schon sehr warm war, ließ sie alle Fenster ihres Autos herunter. An der Kreuzung Wilshire und Beverly Glen musste sie vor einer roten Ampel halten, und neben ihr kam ein goldenes Mercedes Cabriolet zum Stehen, in dem ein Mann um die fünfzig mit Sonnenbrand auf der Glatze saß. »Süße«, rief er, »du gefährdest den Straßenverkehr, ist dir das klar?« Bonnie wandte sich ab und sah in die andere Richtung. Zugegeben, ein Teil Seitenverkleidung ihres Wagens hatte sich gelöst und flatterte im Wind, und beim Gasgeben an Ampeln erzeugte der Electra ein blaue Rauchwolke, aber abgesehen davon war er noch gut in Schuss. Nachdem der Mann keine Antwort erhalten hatte, lehnte er sich über den Beifahrersitz. »Weil ich nämlich meine Augen nicht von dir lassen kann.« Die Ampel schaltete auf Grün und Bonnie fuhr mit durchdrehenden Reifen und einer ohrenbetäubenden Fehlzündung an. Der Mercedes hängte sich locker an sie dran. Hin und wieder sah sie im Rückspiegel die zu einem Lächeln gebleckten unnatürlich weißen Zähne des Mannes. Kurz bevor sie den Campus erreichte, bog er in Richtung Bei Air ab und hupte noch einmal zum Abschied. Als er nicht mehr zu sehen war, betrachtete sich Bonnie im Rückspiegel. Und die Frau, die sie da sah, war ihr so fremd wie ihr eigener Sohn. Dr. Jacobsons Labor war eine aus Zedernholz errichtete Baracke auf der Rückseite der eigentlichen Naturwissenschaftlichen Fakultät. Bonnie hielt direkt vor dem Labor. Als sie ausstieg, hörte sie das traurige Gurren einer Taube im Baum über ihr. An der Tür hing ein kleines Schild mit der Aufschrift »Entomologisches Institut – Bitte Türen immer geschlossen halten«. Durch drei dieser hermetischen Stahltüren, die alle krachend hinter ihr ins Schloss fielen, musste Bonnie durch, bevor sie das Labor erreichte. Drinnen war es schwül und der erstickende Dunst verrottender Pflanzen lag in der Luft. An den Wänden standen Reihen von Terrarien mit allen möglichen Insekten: Stab- und Wanderheuschrecken, Gottesanbeterinnen, fette Maden. In anderen Vitrinen sah sie tote Schmetterlinge und Falter, Diagramme und Fotos an den Wänden erläuterten Arten und Familien und zeigten Details von Fliegen und Larven. An einem Tisch in der Mitte des Raums saß eine junge Frau mit langen dunklen Haaren und einer runden Brille. Offenbar konzentrierte sie sich darauf, etwas mit einer Pipette in Kartons zu füllen. Bonnie ging ein paar Schritte auf den Tisch zu, bis sie auf den Boden des Kartons sehen konnte. Dort saß die größte und haarigste Spinne, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie bebte, als würde sie zum tödlichen Sprung ansetzen. »Wie heißt die?«, fragte Bonnie und rümpfte die Nase. »Chelsea«, sagte die junge Frau, ohne aufzublicken. »Ungewöhnlicher Name für eine Spinne, oder?« »Na ja, ist persönlicher als Aponopelma.« »Ist Dr. Jacobson da? Wir hatten uns um halb elf verabredet, aber ich bin ein bisschen spät dran.« »Er ist da hinten. Gehen Sie einfach durch.« Dr. Howard Jacobson saß in einem sonnendurchfluteten Büro vor seinem Computerbildschirm und hackte auf die Tastatur ein. Er war ein großer, hagerer Mann mit hervorspringenden blauen Augen und buschigem schwarzem Haar, und als er Bonnie erblickte, hüpfte er von seinem Stuhl wie ein Springteufel. »Bonnie! Komm rein! Das ist ja eine Freude! Wie wär’s mit Kaffee?« »Gern. Ich könnte jetzt einen brauchen.« »Wie geht’s denn meiner Lieblingsreinemachefrau so? Ich glaube, wir haben uns seit dieser Axtmordgeschichte nicht mehr gesehen. Mein Gott, all das Blut! Und die Eingeweide! Uuähh! Du kannst so was einfach aufwischen, aber mir dreht’s schon den Magen um, wenn ich nur daran denke.« Bonnie räumte einen Stuhl von Papier frei, setzte sich und legte die Hand an die Stirn. »Geht’s dir auch gut?«, fragte Howard. »Bis auf ein paar Probleme zu Hause ist alles okay. Mein Sohn liegt gerade im Krankenhaus. Nichts Lebensbedrohliches, aber mir reicht’s trotzdem.« »Schnupfen?« »Schlägerei.« »Zu blöd. Aber so sind Jungs nun mal, oder? Ich hab mich zu meiner Zeit immer mit irgend)emandem geprügelt. Für die anderen Kinder war ich nur >Käfer-Kid<, und am liebsten haben die sich auf meinen Kopf gesetzt und mir ins Ohr gefurzt. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch was höre.« »Außerdem hab ich gerade meinen Job bei Glamorex verloren. Glaube ich jedenfalls. Na, mal sehen.« Howard reichte ihr einen Kaffeebecher, auf dem stand: Frag dich nichts, was du nicht schon weisst. »Ich störe dich doch nicht bei der Arbeit, oder?«, fragte sie. »Nein, du störst doch nie. Ich überarbeite nur gerade meinen neuesten Artikel. >Wie das Eindringen der Sarcophagidae-Larve zur Feststellung des Todeszeitpunkts herangezogen werden kann.< Erst lesen, dann essen. Außer man will sowieso abnehmen. Viel zu tun?« »Ziemlich. Menschen bringen sich gegenseitig um und jemand muss die Sauerei ja wegmachen.« »Am Telefon hast du gesagt, es gäbe da etwas Interessantes, das du mir zeigen wolltest.« »Tja, ich weiß nicht. Vielleicht ist es gar nichts. Ich hab so was nur noch nie gesehen.« Damit übergab sie Howard eine braune Papiertüte. Er schob die Tastatur seines Computers zur Seite und schüttete den Inhalt vorsichtig auf die Schreibtischplatte: Feigenblätterreste und eine schwarze Raupe. Die rollte einmal um die eigene Achse und schob sich dann langsam über ein Blatt Millimeterpapier. Howard ging mit dem Gesicht bis auf wenige Zentimeter an die Raupe heran, nahm dann eine Lesebrille aus der Schublade, setzte sie sich auf die Nasenspitze und betrachtete das Insekt aus noch kürzerer Distanz. »Erst wollte ich es gar nicht herbringen, weißt du. Es erschien mir nicht mehr wichtig, nachdem Ray ins Krankenhaus gekommen ist und so. Aber dann dachte ich, bevor es stirbt…« »Natürlich, klar. Ich bin froh, dass du’s doch geschafft hast. Wo hast du sie doch gleich gefunden?« »An einem Feigenbaum. Es waren so sechs bis sieben. Wahrscheinlich hast du im Fernsehen was über die Geschichte gesehen. Der Typ auf der De Longpre, der seine drei Kinder und sich selbst erschossen hat. Der Feigenbaum stand auf einem Fensterbrett im Kinderzimmer.« Howard stupste die Raupe mit der Fingerspitze an, damit sie nicht unter den Computer kroch. »Na, du bist ja ein außergewöhnlicher kleiner Kerl.« »Vor ein paar Tagen hab ich so was schwarzes Falterartiges auch an einem anderen Tatort gefunden. Und als ich das da sah, dachte ich, das ist irgendwie seltsam. Keine Ahnung, ob das was mit den Fällen zu tun hat.« »Du hast mir nicht zufällig auch das schwarze Falterartige mitgebracht?« Bonnie schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht einmal sagen, ob es so ähnlich aussah wie das hier. Es kam mir eben nur irgendwie seltsam vor.« »Es ist in der Tat seltsam, Bonnie. Sogar sehr seltsam. Der kleine Kerl sieht aus wie Parnassius mnemonsyne, der Apollofalter. Ein großer Schmetterling. Er hat weiße Flügel mit schwarzen Punkten. Das dunkle Exemplar hier auf dem Tisch ist ein Weibchen. Bei den Männchen werden die Flügel im Laufe des Lebens fast durchsichtig. Das eigentlich Seltsame ist, dass Parnassius mnemonsyne nur an zwei Orten auf der Welt vorkommt: In den europäischen Alpen und in der Region Chichimec im Norden Mexikos. Warum diese Art ausgerechnet nur in diesen weit voneinander entfernten Gebieten lebt, weiß kein Mensch. Aber es ist die gleiche Art, daran besteht kein Zweifel. Ich hab ein paar Exemplare im Labor. Willst du sie dir anschauen?« »Nein danke«, sagte Bonnie. »Ich will nur wissen, warum die Viecher an den Tatorten herumkrabbeln.« »Ich weiß auch nicht. Allerdings ranken sich in der alten Kultur der Azteken ein paar gruselige Legenden um den Apollofalter. Natürlich purer Aberglaube.« »Was für Legenden?« Howard Jacobson sah ihr in die Augen. »Du glaubst doch nicht an solchen Quatsch, oder? Du glaubst doch wohl nicht, dass diese Raupen etwas mit den Morden zu tun haben?« »Keine Ahnung. Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur so betroffen und kann einfach nicht begreifen, wie ein Vater seinen Kindern so etwas antun kann?« »Tja, ich bin auch kein Psychiater. Ich bin nur Käfer-Kid, wie du weißt.« »Was für Legenden?« »Bonnie. Das ist finsterster Aberglaube. Vergiss es.« »Was für Legenden?« »Na gut: Dieser Legende nach nimmt die Dämonin Itzpapalotl am Tage die Gestalt eines weißen Schmetterlings an, eben dieses Apollofalters. Unter den Azteken war Itzpapalotl der gefürchtetste aller Dämonen, eine Kreuzung aus Insekt und Monster. Die Ränder ihres Flügels bestanden aus Obsidianklingen und ihre Zunge war ein Opfermesser. »Die Dämonin konnte sich verkleiden, dann trug sie ein Gewand, ein naualli, das sie wie einen normalen Schmetterling aussehen ließ. »Itzpapalotl war die Herrin der Hexen und sie wachte über die schrecklichen Menschenopfer. Im aztekischen Kalender gab es dreizehn Unglückstage, die ihr zugeschrieben wurden. Sie war die Anführerin einer riesigen Schmetterlingsarmee, allesamt aus dem Totenreich auferstandene Hexen, die sie im Flug über Wälder und Städte führte.« »Und was… was hat sie getan?« »Sie trieb die Menschen in den Wahnsinn, sodass sie ihre Liebsten töteten.« Bonnie starrte in ihre Teetasse, als wüsste sie nicht, was sie in den Händen hielt. »Vielleicht einen Keks?«, fragte Howard. »Ich hab da eine hervorragende Sorte mit Pekannüssen…« Die Wilden und die Widerspenstigen Um elf Uhr dreißig hatte Bonnie eine Verabredung am Lincoln Boulevard in Santa Monica. Hier war der Schauplatz eines gemeinschaftlichen Selbstmords, und Bonnie sollte nach Besichtigung einen Kostenvoranschlag machen. Eigentlich hätte sie den Anwalt der Hinterbliebenen vor dem Haus treffen sollen, aber gerade als sie vorfuhr, rief der Anwalt an, um zu sagen, dass er sich verspäten würde. Seine Stimme klang, als würde er sich die Nase zuhalten. »Verspäten? Wie lange brauchen Sie noch?«, fragte Bonnie. »Sagen wir zwanzig Minuten.« »Okay. Aber in einundzwanzig Minuten bin ich weg. In zwanzig Minuten und dreißig Sekunden bin ich auch weg.« Sie saß in ihrem Wagen, hörte Radio und tippte im Rhythmus der Countrymusik auf ihr Lenkrad. Vielleicht sollte sie wieder einmal ihre Mutter besuchen, dachte sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wegen ihrer Mutter hatte sie eigentlich immer ein schlechtes Gewissen, selbst wenn sie sie zweimal in der Woche besuchte. Es war, als läge eine ewig unausgesprochene Frage zwischen Mutter und Tochter. Eine Frage, die nie beantwortet werden würde. Eine Frage, die Bonnie nicht einmal kannte. Die Beziehung zu ihrer Mutter war wie eines dieser kryptischen Kreuzworträtsel, die nicht den kleinsten Hinweis auf die Lösung gaben. Sie tippte die Nummer ihrer Mutter in ihr Mobiltelefon und legte sofort wieder auf, kaum dass ihre Mutter sich mit einem »Hallo« gemeldet hatte. Vielleicht wäre es besser, sie zu überraschen. Vielleicht wäre es besser, sie überhaupt nicht zu besuchen. Nein, wäre es nicht, dachte sie. Sie musste. Der gemeinschaftliche Selbstmord hatte in einem weiß gestrichenen Eckhaus stattgefunden. Die Farbe blätterte schon ab, der Rasen war ungepflegt, die Vorhänge waren verschlissen, ein umgekippter Einkaufswagen lag im Vorgarten. Die Kiefer im Garten warf einen dunklen Schatten auf das Haus und verstärkte das unheimliche Gefühl, dass an diesem Ort eine Tragödie stattgefunden haben musste. Zwei Fenster im ersten Stock waren mit Spanplatten vernagelt, der obere Rand des linken Fensters war stark verrußt. Die schwarze Spur sah aus wie ein wehender Schal. Bonnie wusste über den Fall nur, was Lieutenant Munoz ihr am Telefon erzählt hatte: Eine siebenundvierzigjährige Witwe hatte offenbar eine Affäre mit ihrem fünfzehnjährigen Neffen begonnen. Der Bruder der Witwe fand es heraus und drohte damit, die Polizei zu rufen und sie wegen Kindesmissbrauchs anzuzeigen. Noch in derselben Nacht legten sich die Witwe und ihr Neffe zusammen auf ein großes Bett im ersten Stock, Übergossen sich mit zwanzig Litern Premium-Plus-Benzin, und zündeten sich eng umschlungen an. Bei lebendigem Leibe zu verbrennen ist nicht romantisch. Der Junge war vom Bett aufgesprungen und wahnsinnig vor Angst und Schmerz im Zimmer herumgerannt. Dabei hatte er die Vorhänge in Brand gesetzt. Dann war er immer noch brennend die Treppe heruntergestürmt und hatte versucht, aus dem Haus zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt müssen seine Finger aber schon so verkohlt gewesen sein, dass er nicht mehr in der Lage war, den Riegel zurückzuschieben und den Türgriff zu drehen. Die Feuerwehr fand ihn gegen die Tür gelehnt. Sein Leichnam klebte an der geschmolzenen Türfarbe wie ein verschrumpelter, grinsender Affe. Die Witwe war fast restlos verbrannt und ihre Überreste kaum von denen des Bettes zu unterscheiden. So wurde sie mit ihrer Matratze in einer Urne beigesetzt. Bonnie sah auf die Uhr. Der Anwalt hatte noch genau vier Minuten Zeit. Sie war in Schweiß gebadet und so hungrig, dass ihr fast übel wurde. Sie war gerade dabei den Schlüssel im Zündschloss zu drehen, als an der gegenüberliegenden Straßenseite ein rotes Porsche Cabriolet hielt, aus dem ein sonnengebräunter blonder Mann in weißen Shorts sprang. Unter dem Arm trug er zwei Tennisschläger. Er erinnerte Bonnie an irgendwen, aber ihr fiel nicht ein, an wen. Auf dem Weg zum Nachbarhaus hielt der blonde Mann plötzlich an, drehte sich um, nahm die Sonnenbrille kurz ab, setzte sie wieder auf und kam auf sie zugelaufen. »Entschudigung, aber kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Ich komm schon klar, danke.« Er legte eine Hand an den Türrahmen des Electra. Sein gebräunter Arm hatte feine, goldenen Härchen. Am Handgelenk trug er eine Rolex. »Wissen Sie, was hier passiert ist?«, fragte er. Sie war sich jetzt absolut sicher, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Dabei gab es in ihrem Leben eigentlich gar keine Gelegenheiten, Männer dieser Kategorie kennen zu lernen. Sie wollte sich von ihm abwenden und starrte dann doch auf seine kräftigen Waden und die Beule vorn in seiner strahlend weißen Tennishose. Sie fühlte sich ertappt, hob den Blick und sah sich selbst in seiner voll verspiegelten Sonnenbrille. Zweimal. Plump, schwitzend, verzerrt. »Allerdings weiß ich das.« »In den letzten Tagen kamen hier immer wieder Gaffer vorbei. Leute, die aus ihrem Wagen steigen, sich die Nasen an den Fenstern platt drücken und sich anschließend gegenseitig im Vorgarten fotografieren. Eine Familie hat sogar gepicknickt. Mit Grill und allem drum und dran. Können Sie sich das vorstellen? Kalte Hühnerbeine.« »Und jetzt denken Sie, ich wäre auch so ein Gaffer?« »Was hier passiert ist, war eine menschliche Tragödie. Und ich sage nur, dass man solchen Tragödien mit mehr Respekt begegnen sollte.« »Verstehe.« »Also…«, er machte eine Art winkende Geste, »… dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.« In diesem Moment wusste sie, wer er war. »Sie sind Kyle Lennox!«, sagte sie aufgeregt. »Jetzt hab ich’s. Kyle Lennox. Von Die Wilden und die Widerspenstigen!« »Genau. Ich bin Kyle Lennox von Die Wilden und die Widerspenstigen, aber das ändert gar nichts. Ich wohne hier, und meine Nachbarn und ich haben die Schnauze voll von… Hyänen wie Ihnen. Ich habe Mrs Marrin gekannt. Sie war eine gute Freundin von mir. Und ihren Neffen kannte ich auch. Was glauben Sie eigentlich, was hier abläuft? Eine Wiederholung der besten Szenen?« »Nein, nein.« Bonnie holte ein Visitenkarte aus dem Handschuhfach und reichte sie ihm. »Deshalb bin ich hier, Mr Lennox. Ich warte hier auf den Anwalt der Hinterbliebenen, um ihm einen Kostenvoranschlag für die Reinigung zu machen.« Kyle Lennox hob wieder seine Sonnenbrille und besah sich die Karte. Er hatte die blauesten Augen, die Bonnie jemals gesehen hatte. Schon auf dem Bildschirm sah er gut aus, aber hier in Fleisch und Blut… Sie gab sich alle Mühe, nicht wieder auf seine Tennishosen zu starren. »Also ehrlich«, sagte er, »das konnte ich ja nun wirklich nicht ahnen. Tut mir Leid.« »Kein Problem. Ich kann gut verstehen, dass man nervös wird, wenn die eigenen Nachbarn auf diese Weise ums Leben kommen.« »Nein, nein. Ich habe sie als Gaffer beschimpft, und dafür möchte ich mich entschuldigen.« »Das müssen Sie nicht. Die Vermutung lag ja wirklich nahe.« »Ich hab mir nie überlegt, dass es spezielle Reinigungskräfte, also eher Reinigungsfirmen gibt, die nach Selbstmorden und so aufräumen. Ist das denn nicht Aufgabe der Polizei?« »Die verstehen nicht genug davon. Und ein Wischmop mit Eimer reicht in solchen Fällen nicht.« »Meine Güte. Wer kommt auf so etwas? Sie haben wohl schon ein Menge scheußlicher Sachen gesehen, oder?« »Hin und wieder schon. Meistens sind nur Flecken übrig.« »Meine Güte. Und zu wie vielen… Tatorten gehen Sie so in der Woche?« »Vier. Manchmal mehr. Irgendwer bringt ständig irgend wen um.« »Meine Güte. Was war denn so das Schlimmste, das Sie jemals gesehen haben?« Bonnie deutete auf die Visitenkarte, die Kyle Lennox immer noch in der Hand hielt. »Wären Sie vielleicht so nett, mir darauf ein Autogramm zu geben? Ich bin ein großer Fan Ihrer Serie. Bitte schreiben Sie >Für Duke<. Das ist mein Mann. Der ist schon kein Fan mehr, sondern eher ein Jünger.« »Klar. Haben Sie was zu schreiben?« Bonnie gab ihm den zerkauten Kugelschreiber von ihrem Klemmbrett und er signierte schwungvoll. »Bitte sehr: Für Duke – Jeder kann wild, und widerspenstig sein.« »Also widerspenstig ist er. Richtig wild hab ich ihn allerdings schon länger nicht mehr erlebt.« In diesem Augenblick hielt einige Meter hinter Bonnie ein metallicgrüner Coupe de Ville, aus dem ein kleiner Mann mit rotbraunen Haaren stieg. Er schlüpfte in ein beiges Sportsakko und winkte Bonnie freundlich zu. »Der Anwalt?«, fragte Kyle Lennox. »Nehme ich an«, sagte Bonnie und stieg aus. »Dann verzieh ich mich lieber. Es war wirklich hochinteressant, Sie kennen zu lernen, Bonnie. Noch mal nichts für ungut für das Missverständnis. Ich hoffe, Sie können mir noch mal verzeihen.« »Nein wirklich. Vergessen Sie’s einfach.« Bonnie lächelte ihn an. Erst als sie neben ihm stand, wurde ihr bewusst, wie groß er war. Und dass er nach Jugend und Kraft und Sonne und Hugo roch. Ihm verzeihen? Sie hätte ihm sogar verziehen, wenn er sie öffentlich der Unzucht mit dem Satan persönlich geziehen hätte. Er lief zurück über die Straße, und sie sah ihm nach. Seinen federnden Gang schrieb sie großer Fitness und teuren Tennisschuhen zu. Der Anwalt der Hinterbliebenen stand plötzlich neben ihr. »Ist das nicht…« »Ja. Er ist es. Und er hat mir gerade ein Autogramm gegeben.« »Meine Frau dreht durch, wenn ich ihr das erzähle. Ich bin übrigens Dudley Freeberg von Freeberg, Treagus und Wolp.« »Freut mich, Mr Freeberg.« »Ganz meinerseits«, sagte Freeberg und grinste sie selig an. Asche zu Asche Wie in allen Häusern, in denen Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben waren, herrschte auch bei den Marrins eine fast unnatürliche Stille. Es war, als hielten die Wände im Angesicht des Grauens, dessen Zeuge sie wurden, den Atem an. Noch mehr als die Stille fiel Bonnie allerdings der Gestank nach verbranntem Teppich auf. Kaum hatten sie und Dudley Freeberg das Haus betreten, rochen sie diese Mischung aus Benzin und verkokelter Wolle. Und noch ein Geruch lag in der Luft. Er erinnerte an alte, verkohlte Fleischreste, die an einem Grill klebten. Beim Eintreten hatte Dudley Freeberg erst vorsichtig hinter die Tür gespäht, war dann zögerlich eingetreten und hatte sie wieder sorgfältig geschlossen. Die ehemals weiß gestrichenen Wände waren geschwärzt und warfen Blasen. Schwarz-bräunliche Schlieren wanden sich bis zur Decke. Am Türrahmen hingen Fetzen irgendeines Stoffes. Die Innenseite der Tür wies lange, tiefe, gleichmäßige Riefen auf, als habe jemand versucht, mit bloßen Händen die Farbe abzukratzen. Bonnie zeigte auf die Fetzen. »Haut«, sagte sie. Dudley Freeberg nahm seine Brille ab und starrte darauf. »Haut?«, fragte er. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab. »Genau. Und diese Kratzer hier sind entstanden, als die Feuerwehr seine Überreste von der Tür entfernt hat. Um die organischen Überreste und die Brandspuren kümmere ich mich, aber für solche Schäden wie hier an der Tür müssen Sie einen Maler kommen lassen.« »Einen Maler«, sagte Dudley Freeberg mit ausdrucksloser Stimme. »Verstehe.« Sie sahen sich schweigend in der Diele um. In dem hohen, großen Raum dominierten die Farben Gold und Flieder. Tote Gladiolen standen in einer hohen Vase auf einem nachgemachten Rokokotischchen. Ein goldgerahmter Druck zeigte zwei schlafende Mexikaner bei der Siesta mit großen Sombreros auf dem Kopf. Durch einen Türspalt erkannte Bonnie eine großzügige, in Eichenholz gehaltene Küche. Das Haus würde ihr auch gefallen, dachte Bonnie. Ein bisschen schäbig vielleicht, aber geschmackvoll und gemütlich eingerichtet und mit einer schönen geschwungenen Treppe. Diese Treppe gab einen lebhaften Eindruck der letzten Momente im Leben des fünfzehnjährigen Liebhabers von Mrs Marrin: Er hatte schon lichterloh gebrannt, als er die Treppe heruntergerannt war und die verschmorten Spuren seiner Füße führten über den lila Teppich vom ersten Stock bis zur Tür. Mit seinem brennenden Händen musste er sich am hölzernen Treppengeländer festgehalten haben, denn auch hier hatte die Farbe Blasen geworfen und sich bräunlich verfärbt. »Mein Gott«, sagte Dudley Freeberg. »Er muss wirklich durch die Hölle gegangen sein.« »Wir gehen mal nach oben«, sagte Bonnie. Sie hatte keine Lust über die Hölle – ob auf Erden oder sonst wo – nachzudenken. Nicht an diesem Tag. Sie gingen nach oben, fanden das Schlafzimmer und blieben stehen vor dem geschwärzten großen Bett, auf dem noch eine verkohlte Samtdecke lag. Am Kopfende des Bettes hing ein gerahmter verrußter Spiegel, durch den sich diagonal ein Riss zog. Bonnie sah sich neben Dudley Freeberg stehen. Sie sahen aus wie Figuren auf einer alten Sepia-Fotografie. »Also«, sagte Bonnie und öffnete ihr Notizbuch, »das Bett kommt natürlich weg, genauso wie der Teppich. Die Rauch- und Rußspuren beseitige ich, Sie müssten aber streichen lassen. Wenn ich hier fertig bin, wird es so aussehen, als hätte es hier niemals ein Feuer gegeben.« »Klingt gut. Einverstanden.« Dudley Freeberg nickte. Er schwitzte stark und seine Haut hatte eine teigige Farbe. Bonnie sah ihm an, dass er kurz vor einer Panikattacke stand. »Ich denke, den Rest können wir draußen klären«, sagte sie schnell. Er rannte fast die Treppe herunter und sprang dabei hin und her, um den verbrannten Fußabdrücken aus dem Weg zu gehen. Während Bonnie im Wagen saß und einen Kostenvoranschlag schrieb, stand Dudley Freeberg daneben, hatte sich den Mantel über den Arm gelegt und tupfte sich immer wieder die Stirn mit einem verknüllten Kleenex ab. Sie reichte ihm den Voranschlag, und er riss ihn ihr fast aus der Hand. »Toll. Geht in Ordnung. Ich spreche noch mit den Hinterbliebenen und dann ruf ich Sie an.« »Jederzeit.« »Und danke, dass Sie…«, er nickte in Richtung Haus. »Daran kann man sich nicht gewöhnen. Niemand kann das. Man kann lernen, damit umzugehen, aber gewöhnen kann man sich nicht daran. Und das sollte man wohl auch nicht.« »Na ja, jedenfalls danke.« Er stakste zu seinem Wagen und verschwand mit quietschenden Reifen. Bonnie sah ihm noch hinterher und wollte in ihren Wagen steigen, als Kyle Lennox wieder auftauchte. Er trug jetzt Khakis und ein schwarzes Poloshirt und rief ihr zu: »Bonnie, warten Sie noch!« Sie sah ihm entgegen und legte die Hand über die Augen, weil sie gegen die Sonne sehen musste. Er hüpfte aufgeregt auf sie zu. »Und? Wie war’s?« »Gut. Warum?« »Ganz schön gruselig, oder?« »Wenn man nicht muss, geht man nicht rein.« »Ich hab gehört, dass der Junge… also, dass der praktisch…« – er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern – »… an der Tür geklebt hat.« Bonnie zuckte die Achseln. »Über solche Details darf ich wirklich nicht reden. Ich mach hier nur sauber.« »Aber er klebte doch an der Tür, stimmt’s?« »Also gut: ja. Er brannte und versuchte die Tür zu öffnen. Er blieb daran hängen.« Langsam und mit bewundernd aufgerissenen Augen schüttelte Kyle Lennox den Kopf. »Das ist so ekelhaft. Ich find’s unglaublich, wie cool Sie bleiben. Wie schaffen Sie das nur?« »Sie sind im Fernsehen, und wie man so was machen kann, verstehe ich auch nicht. Ich hätte jedenfalls wahnsinnige Angst vor der Kamera. Ich habe sogar Angst vor Videokameras.« »Sagen Sie mal, hätten Sie nicht Lust, morgen zu meiner kleinen Pool-Party zu kommen? Nichts Großes, nur ein paar Freunde vom Studio, Autoren und Produzenten und so. Würde mich freuen.« »Wie bitte?« »Eine Party, Bonnie. Und Sie sind eingeladen. Ich freue mich schon darauf, wenn Sie Gene Ballard kennen lernen. Das ist unser Regisseur. Er wird begeistert von Ihnen sein.« »Ich verstehe nicht ganz. Wie kennen uns doch gar nicht, warum laden Sie mich zu Ihrer Party ein?« »Hey, Sie sind mir einfach sympathisch, da muss man sich doch nicht gut kennen. Und ich bewundere Ihre Arbeit. Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie, ich würde mich wirklich freuen. Wird alles ganz locker, und Sie treffen Ihre Lieblingsserienstars. Vielleicht kriegen Sie sogar ein kleine Rolle, wenn Gene Sie mag. Wer weiß?« »Wann ist diese Party?« »Morgen Abend um sechs bei mir. Nun sagen Sie schon Ja.« Bonnie hatte das Gefühl, in einem Traum zu sein. Der Mann ihr gegenüber war wirklich Kyle Lennox, und er lud sie wirklich zu einer Pool-Party mit den Größen der Fernsehbranche ein. »Okay«, sagte sie schließlich und nickte. »Ich komme, warum eigentlich nicht.« Bonnie besucht ihre Mutter »Du hättest mir vorher sagen sollen, dass du kommst«, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll, »dann hätte ich wenigstens einen Salat machen können.« »Schon gut, Mom, ich brauche keinen Salat. Ich hab vorhin schon einen Cheeseburger bei Rusty’s gegessen.« »Cheeseburger? Hast du eine Ahnung, wie viel Fett und Cholesterin in dem Zeug drin ist? Kein Wunder, dass du so zugenommen hast.« »Danke, zu freundlich. Ich habe übrigens gerade ein paar Kilo abgenommen.« »Seit über drei Wochen hast du dich nicht gemeldet. Jetzt kommst du mich plötzlich besuchen und rufst vorher nicht einmal an.« »Aber jetzt bin ich da, also hör schon auf zu meckern.« Mrs Mulligan wuselte im Wohnzimmer herum, schob Zeitschriften auf dem Tisch zusammen, klopfte Kissen auf und jagte ihre stinkende, fauchende Katze vom Sofa, weil Bonnie sie nicht mochte. Mrs Mulligan war klein und rund, hatte kleine runde Hände und Füße und weißes toupiertes Haar wie ein Baumwollballen. Mrs Mulligan sah aus wie Bonnie mit Pausbacken und Schweinsäuglein. Sie lebte in einem Haus in Reseda, das aussah wie alle Häuser in Reseda: respektabel, sauber, bürgerlich und mit gepflegtem Rasen im Vorgarten. Von einem Bild an der Wand grinste Bonnies verstorbener Vater wie Alfred E. Neumann auf sie herunter. Das Foto war auf Leinwand gezogen worden, sodass es in seinem Goldrahmen wie ein Gemälde aussah. Unter dem Bild hingen in einem weiteren Rahmen seine Feuerwehrorden in einer Reihe. Fotos von Bonnies fünf großen Brüdern standen in Massen herum: Daryl am Abschlusstag der Feuerwehrakademie. Robert bei seiner Verlobung mit Nesta. Craig nach dem Gewinn der Highschool-Schwimmmeisterschaften. Barry mit seinem ersten Auto. Richard mit gebrochenem Bein. Mark Hamill hatte auf dem Gips unterschrieben und Mom hatte ihn immer noch irgendwo in der Garage. Das einzige Foto von Bonnie zeigte sie bei der Erstkommunion. Sie sah so süß und unschuldig aus als Zwölfjährige in dem weißen Seidenkleid. Als sie sich selbst als Kind sah, kamen Bonnie beinahe die Tränen. So viel Vertrauen in die Zukunft. So viel Hoffnung. »Es ist Schwerstarbeit, das Haus in Ordnung zu halten, das sag ich dir. Richard lässt seine Socken einfach überall liegen.« »Es ist perfekt wie immer, Mom.« »Du hättest vorher anrufen sollen, dann hätte ich noch ein bisschen aufgeräumt.« »Warum kümmert sich Richard nicht selbst um seine Socken?« Ihre Mutter hielt inne und sah Bonnie an, als hätte die plötzlich eine Fremdsprache benutzt: Socken? Richard? Selbst? Kümmern? Sie gingen in die Küche und Bonnies Mutter arrangierte auf einem Teller Butterscotch-Brownies und Kokosmakronen. »Weißt du«, sagte Bonnie, »ich hätte Lust, nach Hawaii zu gehen. Ganz allein. Ich hätte Lust, eine Tasche zu packen und nach Hawaii zu gehen. Ich möchte auf einem Berg stehen und einen Vulkanausbruch beobachten.« »Einen Vulkanausbruch? Und was soll aus deiner Familie werden?« »Was soll aus mir werden?« Ihre Mutter trug Keksteller und Kaffee auf einem Tablett ins Wohnzimmer. »Du hättest nie mit dieser furchtbaren Reinigungsfirma anfangen sollen. Das tut dir nicht gut.« »Es gefällt mir. Es gibt mir das Gefühl, einen kleinen Beitrag zu leisten.« »Einen Beitrag dazu, dass du krank wirst.« »Aber es ist doch genau das, was eine Frau deiner Meinung nach im Leben tun sollte, oder? Putzen. Aufräumen. Schau dich an. Du hast nie etwas anderes gemacht als Aufräumen.« »Aber keine fremden Leichen. Ich darf nicht mal daran denken.« »Ich räume keine Leichen auf, Mom. Das macht die Gerichtsmedizin. Okay, manchmal räume ich kleine Leichenteile auf. Haare, Zähne und so. Ich hab mal sieben Zehen unter einem Wäschetrockner gefunden, nachdem einer seine Freundin mit einer Kettensäge ermordet hat.« Angeekelt fuchtelte Mrs Mulligan mit den Händen vor ihrem Gesicht. »Ich will das nicht hören. Wenn Duke sich nur endlich aufraffen und eine geregelte Arbeit finden könnte, müsstest du das nicht tun. Wie geht es Duke eigentlich?« »Wie immer. Er hat sich für einen Job im Century Plaza vorgestellt. Als Barkeeper.« »Ich habe nie verstanden, was du an dem Mann findest.« »Das weiß ich. Du sagst es mir ja oft genug. Gerade eben noch.« »Was ist mit deiner anderen Stelle bei dieser Kosmetikfirma?« »Die bin ich wohl los. Das war wohl mehr eine… Periode.« Bonnies Mutter starrte sie an: »Bei Gott, Bonnie Mulligan, ich schwöre, dass ich manchmal keine Ahnung habe, wovon du redest.« Bonnie setzte langsam ihre Kaffeetasse ab. »Mom, was würdest du tun, wenn ein berühmter und reicher Fernsehstar dich zu einer Party einladen würde?« »Was? Worüber redest du denn jetzt schon wieder? Was für eine Party?« Bonnie hatte sich geschworen, niemandem von Kyle Lennox zu erzählen. Es sollte ihr Geheimnis bleiben. Ihre Mutter, Duke und Ray und andere würden ihr nur erklären, dass sie alles falsch verstanden hätte und die Party eine Riesenenttäuschung würde und überhaupt keine Stars auftauchen würden. Und am Schluss hätte Bonnie sich vor allen lächerlich gemacht. Und doch fand sie das alles so aufregend, dass sie es jemandem erzählen musste. Irgendwem, irgendwie. »Eine Party eben. Du weißt schon, mit Schauspielern und Produzenten und solchen Leuten. Alles ganz locker, nur eine kleine Pool-Party. Ein bisschen Champagner. Vielleicht schwimmen.« »Und wer lädt einen zu so was ein?« »Ein Fernsehstar.« »Ich kenne keine Fernsehstars.« »Ich weiß, aber nur mal angenommen, du würdest einen kennen. Sagen wir mal… Kyle Lennox.« Ihre Mutter starrte sie lange an und kaute dabei mit ihren falschen Zähnen auf einem Keks herum. »Bei Gott, Bonnie Mulligan, ich schwöre, dass ich manchmal keine Ahnung habe, wovon du redest.« Bonnie blickte auf das grinsende Porträt ihres Vaters. Als Bonnie fünfzehn gewesen war, hatte er sich in der Garage erschossen. Sie erinnerte sich noch daran, wie das Blut mit einem Gartenschlauch die Auffahrt hinunter in den Rinnstein gespült worden war. Niemand hatte verstanden, warum er es getan hatte. Ralph gibt nach Gegen fünf Uhr an diesem Tag rief das Krankenhaus an und teilte mit, dass sie Ray abholen könnten. Weil Duke seine Lieblingsfernsehserie nicht verpassen wollte, nahm Bonnie den Buick und fuhr alleine los. Der Himmel leuchtete tiefrot, die Temperatur war drastisch gefallen und Bonnie hatte das Gefühl, dass irgendein Unheil drohte. Sie fand eine Lücke am Ende des Krankenhausparkplatzes, und noch bevor sie aussteigen konnte, spielte ihr Mobiltelefon die Melodie von Henry Mancinis »Dear Heart«. Sie klappte das Mobiltelefon auf und sagte: »Bonnie Winter Tatortreinigung, wie kann ich Ihnen helfen?« »Bonnie? Ich bin’s, Ralph.« »Ralph, hi!« »Ich wollte nur mal hören, wie’s deinem Jungen so geht.« »Viel besser. Ich hole ihn gerade aus dem Krankenhaus ab.« »Gut zu hören. Was ist mit der Anklage?« »Weiß ich noch nicht. Aber die Chance, dass sie fallen gelassen wird, ist ganz gut. Erste Anklage, guter Leumund und so. Außerdem ist Mama mit Captain O’Hagan befreundet.« »Na, dann hoffe ich mal das Beste.« »Danke. Wie war’s in Pasadena?« »Tja, äh… ich wollte mich deswegen entschuldigen.« »Das musst du nicht. Du hast mich gebraucht und ich hatte keine Zeit. Das war schon alles.« »Ehrlich gesagt, habe ich die Sache auf kommenden Freitag verschoben. Ist günstiger für die Einkäufer. Gestern gab es so viele Präsentationen, dass sich der Zeitplan ein bisschen verschoben hat.« »Aha, verstehe. Na dann, viel Glück.« »Na ja, und da hab ich mich gefragt… also ich hab mir gedacht, dass du ja am Freitag mitkommen könntest.« Bonnie stieg aus ihren Wagen und schlug die Tür zweimal zu, ehe sie schloss. »Ich bin also nicht entlassen?« »Ach, das war doch nur in der ersten Verärgerung. Natürlich bist du nicht entlassen. Ich entlasse doch nicht eine meiner besten Verkäuferinnen.« »Ich bin also nicht entlassen und soll am Freitag mit dir nach Pasadena fahren.« »Wenn du es bis halb drei ins Büro schaffst?« »Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Wann kommen wir denn zurück?« »Wir hätten noch eine Art Geschäftsfrühstück und würden gleich danach fahren. Na komm schon, Bonnie, sag, dass du mitkommst.« »Ich weiß wirklich nicht, Ralph. Jemand muss sich doch um Ray kümmern, für ihn kochen und so.« »Kann Duke das nicht machen?« »Duke denkt, Hühner würden Rühreier ausbrüten.« »Dann können sie sich doch für den einen Abend was kommen lassen.« »Ich sollte Ray im Moment wirklich nicht alleine lassen. Es geht ihm nicht gut und er ist ziemlich durcheinander.« »Es liegt an dir, Bonnie. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn du deine Meinung noch mal ändern würdest.« »Ich denk drüber nach und ruf dich an.« Sie klappte ihr Mobiltelefon zu und lief die Treppen zum Krankenhauseingang hoch. Die Rückkehr des Helden Handgelenk und Knöchel hatte er immer noch in Gips, deshalb musste er den Weg zum Klo hüpfend bewältigen. Beide Augen schillerten in allen Regenbogenfarben, die Lippen waren geschwollen. Trotzdem mache er gute Fortschritte, hatte der behandelnde Arzt gesagt, und außerdem brauchten sie das Bett. Ray war’s nur recht. Für ihn war das Krankenhausessen »Dreck«. Abends kochte Bonnie Rays Leibgericht: Schweinekoteletts und Bohnen, als Dessert eine Blaubeer-Zitronen-Torte mit Kaffeecreme. Duke leerte drei Bierdosen. Jedes Mal, wenn er zum Trinken ansetzte, rief er: »Auf unseren Helden! Auf unseren verdammten Helden!« Nach dem achten Trinkspruch dieser Art ging er Bonnie langsam auf die Nerven. »Ein Held, was? Weil er völlig unschuldige mexikanische Kinder verprügelt hat?« »Er hat für seine Überzeugung gekämpft, stimmt’s? Für die Überzeugung, dass Kalifornien den Kaliforniern und nicht den verdammten Mexikanern gehört. Ist dir überhaupt klar, dass seit diesem Jahr mehr verdammte Mexikaner als Weiße in diesem Staat leben? Die verdammten Schwarzen gar nicht mitgerechnet?« »Willst du noch Kartoffeln?« »Lenk nicht vom Thema ab, Bonnie. Der Junge ist ein Held. Eigentlich ist er jetzt gar kein Junge mehr. Sondern ein Mann. Wenn ich damals gewusst hätte, dass er gegen die verdammten Mexen auszieht, wäre ich mitgekommen. Mann, wir hätten denen eine Lektion erteilt. Zack zack, nimm das, du Enchilada fressender Schmierlappen!« »Du bist so selbstgerecht, Duke.« »Selbstgerecht? Ich? Du arbeitest doch jeden Tag für zwei, nur weil irgendein Mexikaner mir meinen Job weggenommen hat, und du nennst mich selbstgerecht? Im Gegenteil! Wenn man das bedenkt, bin ich sogar ein Musterbeispiel für Toleranz! Wenn man das bedenkt, bin ich schon fast ein Heiliger, verdammt noch mal.« »Die Anklage gegen Ray ist jedenfalls noch nicht ganz vom Tisch. Bis dahin bleibst du hoffentlich so heilig.« »Sollen sie ihn doch anklagen. Das ist der Preis, den man als Held zu zahlen hat. Aber ich werde zu dir stehen, Junge. Bis zum bitteren Ende. Weil sie dir Respekt schulden, deshalb.« Ray grinste Duke unsicher an. Und während Bonnie Kartoffeln schöpfte, wurde ihr plötzlich klar, was er getan hatte: Ray hatte sich auf die Seite seines Vaters geschlagen und damit ein für alle Mal die Diskussion beendet. Konnte sie es ihm verdenken? Kaum. Bisher war praktisch jedes Abendessen zum Dritten Weltkrieg eskaliert. Bonnie hatte sich gegen Dukes Argumente verschanzt, und der hatte alles auf sie geschmissen, was er an Munition aufzubieten hatte, um sich irgendwann mit wüsten Drohungen zurückzuziehen. Doch ab jetzt stand es zwei gegen eins, und deshalb würde sie zukünftig Dukes Argumente hinnehmen müssen, so ungerecht und unlogisch sie auch waren. Mit einem hatte Duke allerdings tatsächlich Recht: Ray war als Junge zu dem Pool-Club gegangen und als eine Art Mann zurückgekehrt. Später half sie Ray die Treppe hoch in sein Zimmer. »Bist du noch wütend auf mich?«, fragte er, nachdem sie ihn ins Bett dirigiert hatte. »Wütend? Auf dich? Warum sollte ich. Du bist alles, was ich habe.« »Und was ist mit Dad? Du solltest auf ihn auch nicht mehr wütend sein.« »Bin ich eigentlich auch nicht. Ich sehe die Welt nur mit etwas anderen Augen. Er ist so ein Traumtänzer, tut aber nie etwas, damit diese Träume auch wahr werden. Und am Schluss ist er dann enttäuscht. Nur kann man nicht sein Leben lang enttäuscht sein. Man muss es doch zumindest versucht haben.« »Ich liebe dich, Mom. Aber Dad ist eben mein Dad.« Bonnie lächelte verkniffen und nickte, aber in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie nach Pasadena gehen würde. Sie ging wieder hinunter ins Wohnzimmer. Duke hatte eine weitere Dose Bier aufgerissen, sich aufs Sofa fallen lassen und den Fernseher angestellt. Es lief Stargate. »Guck dir das an. Was für ein Scheiß. Ist doch klar, was diese Aliens wollen. Warum knallen sie die nicht einfach ab, und das war’s dann?« Bonnie setzte sich neben ihn und griff in die Schüssel mit dem Karamelpopcorn. »Ralph möchte, dass ich Freitag nach Pasadena gehe.« Duke nahm langsam einen großen Schluck, rülpste dann laut und sagte: »Ralph? Ich dachte, das Arschloch hätte dich gefeuert?« »Hatte er eigentlich auch. Aber jetzt soll ich nach Pasadena.« Duke legte kumpelhaft seinen Arm um sie. »Tja, dann wird es dir ja hoffentlich eine Freude sein, ihm zu sagen, dass er sich seinen Trip nach Pasadena in den Teil seines Körpers schieben kann, wo die Sonne nie hinscheint, oder?« »Nein. Ich werde fahren.« Duke drehte sich langsam um und starrte sie an. »Hab ich dich richtig verstanden? Hast du >fahren< gesagt. Im Sinne von >fahren nach Pasadenadie kleinen Fetten<. Frittierte Tortillaschälchen gefüllt mit Bohnenmus und Gehacktem.« »Bei meinem Mann durfte ich nicht mexikanisch kochen.« »Aber Ihr Mann ist verschwunden.« Sie nickte. »Mein Mann und auch mein Sohn. Es ist mir ein Rätsel. Fast wie in einem dieser alten englischen Filme, in denen ein Verbrechen in einem von innen verschlossenen Raum geschieht.« »Ich glaube nicht, dass es um einen verschlossenen Raum geht, eher um verschlossene Erinnerung.« »Wahrscheinlich haben Sie Recht. Ich habe große Schwierigkeiten, mich an diesen Nachmittag zu erinnern. Ich kann mich einfach nicht entsinnen, ob ich da war, als Duke und Ray das Haus verlassen haben. Aber sie waren da, als ich nach dem Besuch bei Ihnen nach Hause kam. Und am Morgen sind sie weg und alle Türen und Fenster verschlossen.« »Was ist also Ihrer Meinung nach passiert?« »Ich weiß es nicht. Darum wollte ich ja mit Ihnen reden.« »Warum mit mir? Ich bin weder Polizist noch Hellseher. Ich bin Schriftsteller und Historiker, mehr nicht.« Bonnie entnahm ihrer Handtasche das Marmeladenglas. »Das hier habe ich in meinem Wohnzimmer gefunden.« »Ein Apollofalter. Verstehe. Sie denken, dass Itzpapalotl etwas mit dem Verschwinden Ihrer Familie zu tun hat.« Bonnie nickte. »Wäre das nicht möglich?« »Auf welche Weise?« »Na ja, ich weiß ja nicht, wann genau sie verschwunden sind, aber wenn es nachts passierte, hätte Itzpapalotl sich verwandeln können, wäre aus einem Falter zu einem Insektenmonster geworden mit Messern an den Flügeln und so, genau, wie Sie gesagt haben. Dann hätte sie Ray und Duke töten und auch in Falter verwandeln können wie diese Hexen in der Legende, und so sind sie dann verschwunden. Und als ich dann die Haustür am Morgen aufgemacht habe, sind sie einfach weggeflogen.« »Und Sie glauben wirklich, dass es sich so zugetragen haben könnte?« »Wie hätten sie sonst aus dem Haus kommen sollen, ohne dass ich etwas bemerkt habe?« »Um sie in Falter verwandeln zu können, hätte Itzpapalotl sie erst töten müssen. Nur die Seelen von Verdammten können der Legende nach zu Faltern werden. Aber was ist mit dem Blut der beiden geschehen? Bei den aztekischen Opferungen wurde das noch schlagende Herz herausgeschnitten und den Umstehenden gezeigt. Ihr Haus hätte wie ein Schlachthaus ausgesehen.« »Ja«, sagte Bonnie. »Aber ich gehe recht in der Annahme, dass da kein Blut war?« »Ja.« Bonnie schwieg für einige Momente. Juan Maderas aß und beobachtete sie dabei. Die Band begann mit einem langsamen klagenden Lied, einer Art musikalischem Unterlippenzittern. Dann sagte Bonnie: »Mir ist da noch etwas eingefallen.« »Bitte.« »Angenommen Itzpapalotl ist schon am Nachmittag, also tagsüber in das Haus eingedrungen, und zwar in Form eines Falters.« »Ja?« »Und angenommen, sie hätte mir etwas eingeflüstert… hätte mir eingeflüstert… ich solle meine Liebsten töten. Und ich hätte es nicht gemerkt, hätte also nicht gemerkt, dass sie mir das eingeflüstert hat… Mir wäre dann nicht bewusst gewesen, dass ich das vorhatte. Mir fehlt einfach ein Teil dieses Nachmittags. Es ist wie ein verlorenes Puzzlestück.« »Sie halten es also für möglich, dass Itzpapalotl Sie dazu bringen konnte, Ray und Duke eigenhändig zu ermorden?« »Keine Ahnung. Vollkommen irre, oder? Aber was kann denn nur mit ihnen geschehen sein?« »Und diese Frage ist genau das Problem in Ihrer Theorie. Nehmen wir an, Sie hätten Recht und Itzpapalotl hätte Ihnen eingeflüstert, die beiden zu töten. Wie haben Sie es dann getan? Haben Sie sie erwürgt? Wohl kaum, man kann nur einen auf einmal erwürgen. Und womit hätten Sie es getan? Ihren bloßen Händen? Oder haben Sie sie erstochen? Aber dafür gilt dasselbe wie für das Erwürgen. Es geht nur nacheinander und es waren zwei. Erschießen wäre wohl eine Möglichkeit gewesen.« »Wir haben keine Schusswaffe im Haus. Na ja, Duke hatte mal eine, musste sie aber verkaufen.« »Womit diese Version ausscheidet. Aber die entscheidende Frage bleibt: Wo sind sie hin? Selbst wenn Sie sie ermordet hätten – wo sind ihre Leichen? Wie wird man als Frau in einem netten Vorort zwei Leichen los, ohne dass jemand etwas merkt? Die Leichen sind doch noch nicht gefunden, oder?« Bonnie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich hatte wirklich gehofft, Sie hätten eine Erklärung für das, was geschehen ist.« »Sie wollten tatsächlich die Schuld für das alles einer mexikanischen Dämonin in die Schuhe schieben?« »Ich dachte, Sie glauben an Itzpapalotl.« »Natürlich glaube ich an sie. Ich glaube aber auch, dass alte Dämonen in der modernen Welt nur etwas anrichten können, wenn man sie anruft.« »Sie glauben, ich hätte sie gerufen?« »Vielleicht. Möglicherweise können Sie sich nur nicht mehr daran erinnern. Vielleicht wissen Sie es, bestreiten es aber trotzdem.« Die Band setzte zu einer romantischen Version von »La Pesadilla« an. »Sie glauben nicht, dass ich es war, oder? Ich habe sie nicht ermordet, ich kann sie nicht ermordet haben – und selbst wenn ich es war, wusste ich es nicht. Es war Itzpapalotl.« »Das können nur Sie allein wissen.« Der Tag des Apollofalters Sie stand im Wohnzimmer und ihr Haar glänzte in der Nachmittagssonne. Sie betrachtete den Druck eines Elvisporträts, den Duke ihr zum Dreißigsten geschenkt hatte. Elvis in Love Me Tender mit Cowboyhut und Wildlederfransenhose. An den Geburtstag hatte sie lebhafte Erinnerungen. Damals hatte Duke noch Arbeit. Am Abend hatte er sie in ein Westernlokal ausgeführt. Es gab Steaks und Spareribs und Tanz. Auf der Rückfahrt hatten sie so gelacht, dass Duke nicht mehr weiterfahren konnte und an den Randstein fahren musste. Dann hatte er seinen Arm um sie gelegt, sie geküsst und gesagt: »Wir zwei gehören für immer zusammen, weißt du das? Bis der beschissene Tod uns scheidet.« Vorsichtig nahm sie den Druck von der Wand. Sie lehnte den Rahmen an das Sofa und löste die Schrauben auf der Rückseite. Mit dem Bilderdraht ging sie in die Küche, nahm ihre Gartenhandschuhe aus der Schublade und zog sie an. Ray lag noch immer auf der Liege hinterm Haus und hörte mit geschlossenen Augen Musik. Sie war so laut wie zuvor. Duke machte gerade noch ein Bier auf und las die Sportseite der Zeitung. Sie schob die Tür zur Terrasse auf. Rays Musik übertönte jedes Geräusch. Weder er noch Duke blickten auf. Sie trat nach draußen und blieb bewegungslos hinter Dukes Liegestuhl stehen. Beinahe eine Minute verstrich. Sie hielt den Draht in den Händen. Vielleicht hatte Duke sie auch bemerkt und schmollte nur, weil sie hinter seine Lüge von der Arbeit im Century Plaza gekommen war. Bonnie dachte: Wenn du dich jetzt umdrehst und mich anlächelst, lasse ich dich vielleicht am Leben. Aber er blätterte nur um und nahm noch einen Schluck. Sie war kräftig. Das Scheuern, Matratzenschleppen und Staubsaugen hatte sie stark gemacht. Sie legte den Bilderdraht in einer Schlinge um seinen Hals und zog diese zu, ehe Duke noch danach greifen konnte. Er drehte und wand sich und schlug mit den Beinen aus, aber Bonnie zog die Schlinge immer fester und fester zu, bis der Draht in seinem Fleisch versunken war und ihm das Blut über die Schultern lief. So hielt sie den Draht, bis nur noch ein leises Schaudern durch Dukes Körper lief und sein Kopf zur Seite sank. Ray hatte seine Augen die ganze Zeit geschlossen. Sie nahm die Schlinge von Dukes Hals und ging zu Rays Liegestuhl hinüber. Er sang leise vor sich hin und schnippte mit den Fingern. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft auf die Stirn. Öffne deine Augen, dachte sie, sieh mich an und erkenne, wer ich wirklich bin, dann werde ich dein Leben verschonen. Aber er grinste nur, sang weiter vor sich hin und schnippte mit den Fingern. Danach ging sie ins Wohnzimmer und rief Esmeralda an. »Es ist alles arrangiert«, sagte Esmeralda. »Wir treffen uns um acht in der Stadt.« »Abgemacht.« »Alles okay? Du klingst so angespannt.« Sie drehte sich zu Duke und Ray um und sah sie auf ihren Liegestühlen im Garten liegen, als sei nichts passsiert. »Ich hab alles im Griff«, sagte Bonnie. »Bis später.« Das Puzzle Bonnie schreckte aus dem Schlaf hoch und streckte sofort die Hand nach Duke aus. Aber er lag nicht neben ihr. Es war erst Viertel nach fünf und der Himmel war blassblau wie getrocknete Kornblumen. Sie stand auf, ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haare standen wild ab und ihre Augen waren verquollen. Sie erkannte sich kaum und musste an eine dieser Frauen denken, die im Echo Park unter der Brücke schliefen. Sie hatte die Tat nur geträumt, sagte sie sich, nichts davon war wirklich geschehen. Konnte wirklich geschehen sein. Ein Albtraum, nichts weiter. Nie hätte sie ihren Mann und ihren Sohn erdrosseln können. Was hatte Juan Maderas gesagt? Selbst wenn sie es getan hatte: Wo waren ihre Leichen? Schlafen konnte sie nicht mehr, deshalb ging sie in die Küche und trank ein großes Glas eiskalten Orangensaft. Ihr Gaumen schmerzte von der Kälte. Dann stand sie am Fenster und starrte in die Dämmerung. Sie sah die leeren Liegestühle im Garten. Sie erinnerte sich daran, Duke und Ray darauf liegen gesehen zu haben, als sie mit Esmeralda sprach. Waren sie da noch am Leben oder schon tot? Sie ging ins Wohnzimmer und nahm das Elvisbild von der Wand. Der Bilderdraht schien unberührt. Wenn sie ihn als Mordwaffe benutzt haben sollte, würde niemand es je erfahren. Nicht einmal sie selbst. Sie stellte den Fernseher an und sah alte Folgen von I Love Lucy, bis die Sonne aufging. Kurz nach acht rief Ralph an. »Bonnie? Joyce Bach hat mir von der Sache mit Duke erzählt. Du hast mir gesagt, er hätte dich verlassen. Mir war nicht klar dass er, dass er… als vermisst gilt.« »Er und Ray. Ich weiß einfach nicht, wo sie sein könnten. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte sie umgebracht.« »Entschuldige, aber du klingst wirklich nicht gut.« »Ich fühle mich auch nicht gut.« »Also, ich wollte nur sagen, dass ich mich dir gegenüber nicht fair verhalten habe. Ich habe dir die Schuld für meine Probleme gegeben. Phil Cafanga ist einfach ein notgeiler Schweinehund, und abgesehen davon war es nicht besonders clever von mir, so viel auf eine Karte zu setzen.« »Soll das heißen, du hast deine Meinung geändert?« »Ich habe dich im Stich gelassen und ausgenutzt, Bonnie. Aber das war falsch, denn als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe, habe ich das ernst gemeint. Ich schwör’s.« »Vielleicht war es trotzdem besser so.« »Wir sollten uns treffen, Bonnie, über alles reden.« »Ich bin wirklich nicht so richtig auf der Höhe, Ralph.« »Du bist immer auf der Höhe. Bitte Bonnie, ich brauche die Chance, dir alles zu erklären.« Bonnie betrachtete den Kokon im Marmeladenglas. Bald würde der Falter schlüpfen. »Na gut. Komm doch einfach vorbei.« »Du meinst zu dir?« »Warum nicht. Wir sind unter uns und ich habe guten Kaffee.« »Genau. Ja, genau. Dann komme ich um – sagen wir Viertel nach zwölf?« »Ich bin da.« Bonnie legte den Hörer auf. Sie nahm das Glas. Der Kokon war aufgebrochen: »Was bist du? Was willst du? Meine Seele? Warum müssen wir die Menschen opfern, die wir am meisten lieben? Was hast du davon?« Und doch kannte sie die Antwort. Abraham musste seinen Sohn töten, um Gott die Stärke seines Glaubens zu beweisen. Vielleicht war es das, was auch Itzpapalotl verlangte. Ralph schüttet sein Herz aus Bonnie ging ins Schlafzimmer und ließ die Rollläden herunter, sodass es fast vollkommen dunkel in dem Raum war. Sie schlug die Decken zurück und glättete mit der Hand die Laken. Dann nahm sie das Marmeladenglas, schraubte den Deckel ab und stellte es zwischen die Kopfkissen. »Ich weiß, dass du kein Licht magst«, sagte sie laut. Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich und ging zurück in die Küche, um Kaffee zu kochen und einen Teller mit Shortbread und Kokosmakronen zu arrangieren. Duke hatte Kokosmakronen gehasst. Sie frischte ihr Make-up auf und warf Elvis eine Kusshand zu. In diesem Moment hielt Ralphs glänzender blauer Wagen vor dem Haus. Dukes nackte Füße schlingerten über den Teppich, als Bonnie ihn in die Küche zerrte. Danach holte sie Ray. Seite an Seite lagen Vater und Sohn auf dem Küchenboden. Bonnie schloss die Terrassentür. Rays angeschwollenes Gesicht sah friedvoll aus, aber Dukes Ausdruck war noch im Tod wütend und beleidigt. Im Wohnzimmer breitete sie die grüne Plastikfolie auf dem Teppich aus. Als sie auf Knien darüberkroch, um die Ecken unter den Sofabeinen zu fixieren, knisterte die Folie. Sie hätte Ray und Duke auch in der Küche opfern können, immerhin gab es dort pflegeleichte, weiße Bodenfliesen. Aber sie wusste, dass die Fliesen selbst zwar leicht zu reinigen waren, nicht aber die Fugen dazwischen. Sogar die geringste Menge Blut würde im Verdachtsfall für einen DNA-Test ausreichen. Nun schleifte sie die Leichen ins Wohnzimmer und schälte sie aus ihrer Kleidung. Sie konnte gut leblose Körper ausziehen, schließlich hatte sie das fast jede Nacht mit Duke machen müssen. Nachdem sie nackt vor ihr auf dem Boden lagen, ging sie zurück in die Küche und wählte ein Ausbeinmesser mit schwarzem Griff und fünfundzwanzig Zentimeter langer Klinge. »Bonnie!«, rief Ralph. »Geht es dir gut? Ich hab dir schon dreimal Hallo gesagt, aber du antwortest gar nicht.« Sie stand an der offenen Haustür und blinzelte nur. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie dorthin gekommen war. »Hallo Ralph.« »Irgendwie ist das eine komische Situation.« »Komisch? Was ist daran komisch?« »Weil ich mich vorher so komisch benommen habe. Ich habe überreagiert.« »Immerhin sind wir beide verheiratet. Das macht es nicht einfacher.« »Gibt es Neuigkeiten von Duke und Ray?« »Nein. Nichts. Komm rein. Willst du was trinken? Ich hab Bier, Seven-up. Milch.« Dem Anschein nach etwas peinlich berührt betrat Ralph das Wohnzimmer. Neugierig sah er sich um und entdeckte das Elvisbild. »Hübsch«, sagte er. »Ja, das ist gut, oder? Ein Freund von Duke hat es gemalt.« Er setzte sich auf die Sofakante und schwitzte unter seinem hellgrauen Jackett und rosa Hemd. »Gib mir doch deine Jacke«, sagte sie. »Nein danke, es geht schon.« »Das sieht aber wirklich nicht sehr bequem aus. Jetzt gib mir schon deine Jacke.« »Das ist nicht nötig, ehrlich, Bonnie. Ich bleibe eh nicht lange, ich wollte nur ein paar Dinge zwischen uns klären.« Was gibt’s denn da zu klären? Ich weiß, dass du weißt, dass ich Phil Cafagna nicht angemacht habe.« »Das weißt du?« »Phil Cafangna hat nichts mit dem Ende unserer Beziehung zu tun. Klar, er hat die Bestellung storniert, aber das war nur eine Kurzschlussreaktion. Er braucht Glamorex so, wie Glamorex ihn braucht. Wo sonst bekommt er Lipgloss für den Einkaufspreis von einem Dollar zwölf Cent bei einem Verkaufspreis von fünfzehn neunundneunzig? Der kommt schon wieder – wenn er es sogar nicht schon getan hat.« Ralph sagte nichts. Stattdessen zog er ein Taschentuch heraus und tupfte sich über die Stirn. »Du hast ganz einfach die Nerven verloren, Ralph. Ich verstehe das. Seine Ehe sausen zu lassen und etwas ganz Neues anzufangen ist ein großer Schritt, besonders, wenn man auf die vierzig zugeht und bei der Scheidung wahrscheinlich das Haus, das schöne neue Auto und die Hälfte des Geschäfts verliert. Wirklich, ich verstehe das. Ich dachte erst, mein Leben würde sich völlig verändern, aber letztlich habe auch ich Verantwortung, Ralph. Na ja, hatte ich Verantwortung… wenn Ray und Duke nicht zurückkommen.« »Wo, glaubst du, könnten sie sein, Bonnie?« »Wirklich, Ralph, ich habe keine Ahnung.« »Aber es ist doch irgendwie merkwürdig, dass du nicht mehr weißt, wann sie das Haus verlassen haben.« »Woher weißt du das?« »Was?« »Woher weißt du, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann sie das Haus verlassen haben?« »Von dir. Das hast du mir gesagt.« »Das glaube ich nicht.« »Ist doch ganz egal. Wichtig ist nur: Was ist ihnen zugestoßen?« »Wenn ich es doch nicht weiß. Was soll ich denn noch sagen? Ich dachte, wir würden über uns sprechen.« »Ich liebe dich, Bonnie«, sagte Ralph. »Das weißt du doch. Aber ich habe einfach zu viel zu verlieren und ich kann nicht mehr ganz von vorn anfangen, Bonnie. Dafür bin ich einfach ein zu großer Feigling.« »Aha. Ein Feigling. Das hätte ich eigentlich nicht von dir gedacht.« »Ich kann mein Leben nicht wie du völlig umkrempeln. So stark bin ich nicht.« »Was willst du denn damit sagen? Ich habe mein Leben nicht völlig umgekrempelt.« »Du weißt schon… Das mit Duke… das hast du ja jetzt geklärt… sozusagen.« »Das mit Duke habe ich geklärt? Ich habe nichts geklärt. Das mit Duke hat sich geklärt, weil das mit Duke Zigaretten holen gegangen ist, oder was weiß ich.« »Aber genau das hast du gar nicht mitgekriegt. Dass er gegangen ist?« Bonnie drehte sich ihm zu und blickte ihm gerade ins Gesicht. »Worüber reden wir hier, Ralph?« »Ich bin nur stolz auf dich, wie du das alles im Griff hast.« »Noch mal: Ich habe gar nichts im Griff. Ich bin abends ins Bett gegangen und morgens waren sie weg.« »Bonnie…« Sie legte einen orange lackierten Finger auf seine Lippen. »Sag jetzt bitte nichts mehr, Ralph. Sag jetzt gar nichts mehr außer >Ich liebe dich<, hörst du? Es stimmt. Mein Leben hat sich verändert. Ich bin plötzlich Single. Ich bin allein. Ich habe niemanden. Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich sagen soll, wenn du anrufst. Ich wusste, dass du es tun würdest. Aber könnte ich wirklich deine Ehe zerstören? Das wolltest du doch sagen, oder? Sag’s ruhig, Ralph. Es macht mir nämlich gar nichts aus, dass du verheiratet bist, Hauptsache, wir sehen uns hin und wieder. Du bleibst schön mit deinem Kühlschrank verheiratet und behältst dein Haus und dein Auto und deine Firma. Ich bleibe gern alleine hier. Aber wir müssen uns sehen und Sex haben, wann immer du Zeit hast, und solange ich das Gefühl habe, dass du das auch willst, ist alles in bester Ordnung, Ralph.« Ralph starrte sie an. »Das ist nicht dein Ernst.« »Hast du das Gefühl, ich mache Witze?« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Bonnie.« Sie küsste ihn auf die Lippen. »Dann sag einfach gar nichts. Komm einfach mit ins Bett und zeig mir, dass wir uns verstehen.« Ralph schwitzte so sehr, dass er sich mit dem Ärmel seines Jacketts über die nasse Stirn wischen musste. »Bonnie… dein Mann ist verschwunden, vielleicht ist er sogar tot.« »Na und? Was kümmert’s dich? Was kümmert’s mich? Er war ein fauler, gewalttätiger, bigotter Alkoholiker, und mein Sohn war auf dem besten Wege, so zu werden wie er.« »Kein Grund, ihn umzubringen.« Bonnie setze sich abrupt auf. »Was ist los mit dir?« »Ich hab nur gesagt, das ist kein Grund, ihn umzubringen.« »Bonnie stand auf und reichte Ralph die Hand. »Komm mit ins Schlafzimmer. Wir denken einfach gar nicht an Duke, wir denken nur noch an uns.« »Ich… ähh… ich habe wirklich keine Zeit mehr.« »Du hast keine Zeit?! Natürlich hast du Zeit.« Mit beiden Händen ergriff sie seinen Arm und zog ihn vom Sofa und hinter sich her durchs Wohnzimmer bis zum Schlafzimmer.« »Bonnie…« »Ich will dir etwas zeigen, Ralph, etwas wirklich Unglaubliches. Bist du bereit, Ralph?« »Also Bonnie, hör mal. Ich hab da dieses wirklich wichtige Geschäftsessen und ich bin eigentlich nur auf einen Sprung…« Bonnie verstärkte ihren Griff um seine Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn und sagte: »Komm rein, das musst du einfach sehen.« Sie drehte den Knauf und schob die Tür auf. Im Schlafzimmer war es fast vollkommen dunkel. Bonnie lächelte. Ralph versuchte, seine Hand aus ihrem Griff zu befreien. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er. Bonnie lauschte. Jetzt konnte auch sie es hören. Ein leises, aber deutliches Wispern, als würden Blätter aneinander reiben, und dann ein hohes, feines Klirren und Kratzen, als würde jemand ein Messer wetzen. »Komm und sieh«, sagte Bonnie eindringlich. »Besser nicht. Was ist das? Da ist doch irgendwas drin, Bonnie? Was ist das?« »Komm und sieh selbst.« Für einen Moment wurde das Klirren und Wetzen lauter, dann war ein heftiges Flattern zu hören, als würde ein großes Insekt blind gegen das Innere eines Lampenschirms schlagen. Es war der Moment, in dem Ralph von Panik ergriffen wurde. »Holt mich hier raus!«, schrie er. »Um Himmels willen, Leute, holt mich hier raus!« Mit einen Ruck zog Bonnie die Schlafzimmertür zu. »Mit wem redest du, Ralph?«, sagte sie. »Welche Leute?« Ralph versuchte immer noch verzweifelt, sich von ihr zu befreien, aber Bonnie hielt ihn fest und riss schließlich mit einer Hand das Jackett von seinen Schultern. Und da sah sie es: das Kabel und das Mikrofon. »Du bist verkabelt«, sagte sie mit tiefer Verachtung in der Stimme. »Du hast gesagt, dass du mich liebst und bist verkabelt.« Sekunden später wurde die Haustür eingetreten und Dan Munoz stürmte herein, gefolgt von Detective Mesie und vier uniformierten Polizisten. Endlich gelang es Ralph, sich loszureißen. Er zog sich auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zurück und sah verletzt und sehr unglücklich aus. Als Dan ins Zimmer trat, sah er sich kurz um und kam mit einem bedauernden Lächeln auf Bonnie zu. »Würdest du das bitte erklären«, sagte Bonnie. Sie bebte vor Zorn. »Dieser Mann dort ist schließlich so etwas wie mein Liebhaber.« »Ich weiß«, sagte Dan sanft, »darum war er auch am besten für diese Aufgabe geeignet.« »Welche Aufgabe? Mich eines Verbrechens zu überführen, das nicht einmal stattgefunden hat?« »Oh, es hat aber stattgefunden, Bonnie. Darum sind wir ja hier. Zugegeben, ich hatte gehofft, dein Geständnis auf Band zu bekommen, aber für einige Indizien hat’s immerhin gereicht.« »Ach ja? Na, was denn? Dass ein Messer sauberer ist als die Polizei erlaubt? Oder willst du mich verhaften, weil mein Klo geputzt ist?« »Wir haben die Leichen gefunden.« Bonnie wurde auf einen Schlag eiskalt. »Ihr habt sie gefunden? Duke und Ray? Beide?« Dan nahm ihren Ellbogen. »Du kannst sie dir ansehen, wenn du einen starken Magen hast. Mesic! Das Schlafzimmer.« »Wo sind sie? Wie sind sie gestorben?« »Wir bringen dich zu ihnen, dann kannst du selbst sehen.« Detective Mesic öffnete die Schlafzimmertür. »Hier ist es ziemlich dunkel«, sagte er. »Moment mal, ich mach schnell die Jalousien hoch.« Er zog an der Schnur und sofort drangen helle Sonnenstrahlen durch die Scheibe. Mesic machte den Schrank auf und wieder zu, zog geräuschvoll die Wäscheschubladen auf und zu. »Hier ist nichts, Sir.« Ralph sah Bonnie stumm und entgeistert an. Dan schob sie zur Haustür. Duke und Ray tauchen auf Auf der Südostseite der Riverside-Deponie inmitten eines stinkenden Müllgebirgszuges trafen sie auf vier Streifenwagen, zwei Fahrzeuge der Gerichtsmedizin und einen Krankenwagen. Sie standen fein säuberlich in einer Reihe nebeneinander wie zur Besichtigung auf einem Schulfest. Dan hielt neben dem ersten Streifenwagen. »Hier?«, fragte Bonnie. »Wir haben sie hier gefunden, weil wir hier nach ihnen gesucht haben. Wir wussten sogar, wo genau auf der Deponie sie höchstwahrscheinlich liegen würden.« Er öffnete ihr die Tür und gemeinsam schritten sie über zerquetschte Cornflakes-Packungen, aufgerissene Windeln und fauliges Gemüse. Ein brennender Gestank stieg von der nahen Müllverbrennungsanlage auf und verdichtete den ohnehin kaum zu ertragenden mittäglichen Smog. Detective Mesic hustete. Keiner sprach. Es gab nichts zu sagen. Dan führte Bonnie durch die Reihe von Polizisten, Fotografen und Gerichtsmedizinern, die um eine bestimmte Stelle herumstanden. Und da lagen sie einträchtig nebeneinander: Duke und Ray. So wie man einst im Wilden Westen erlegte Revolverhelden in offenen Särgen für Schaulustige ausstellte. Nur dass Duke und Ray nicht in Särgen lagen. Sie lagen in aufgeschlitzten, blutgetränkten Matratzen. In den Matratzen, auf denen David Hinsey und Maria Carranza gestorben waren. Duke und Ray waren nackt und aufgedunsen und von Maden übersät. Beiden war die Brust geöffnet worden. Duke war entmannt worden. Zwischen seinen Beinen hing eine Traube fetter, grünlich glänzender Schmeißfliegen. Bonnie stand da und starrte lange Zeit auf ihre Familie hinab. Dan hatte die Arme gefaltet und wartete geduldig. »Du hast mir damals erzählt, du hättest erst die Matratzen auf die Deponie gebracht und wärst dann nach Hause gefahren«, sagte er schließlich. »Aber weil du dir über den gesamten Tagesablauf so unsicher warst, hab ich das noch mal überprüft. Demnach hast du die Matratzen erst um vier Uhr siebenundvierzig hier abgeliefert, kurz bevor die Deponie zumachte. Um drei Uhr zwei hast du Esmeralda angerufen. Zu diesem Zeitpunkt waren Ray und Duke wahrscheinlich schon tot. Du musstest nur noch die Matratzen aufschlitzen, ihre Körper hineinlegen, die Matratzen wieder notdürftig zunähen und sie hier wegwerfen. Wir hatten Glück, dass noch kein Bulldozer sie für immer begraben hatte.« Bonnie betrachtete Dukes deformiertes, geschwollenes Gesicht, dann sah sie auf Ray, aber die beiden sahen nicht einmal mehr aus wie ihr Mann und ihr Sohn. »Es war Itzpapalotl«, sagte sie leise. »Ich habe sie um Hilfe gebeten, wollte von ihr einen Ausweg wissen. Sie kam und hat mich frei gemacht – frei wie ein Schmetterling.« Auf dem Anrufbeantworter »Bonnie? Hier ist Howard Jacobson. Du hast mir vor einiger Zeit diese Raupe gebracht, erinnerst du dich? Parnassius mnemonsyne, der Apollofalter. Ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren, dass ich herausgefunden habe, woher die Falter kommen. Offenbar waren die Larven in einer größeren Lieferung grünem Kohl aus Mexiko. Durch El Niño und das ungewöhnlich warme Wetter konnten sie sich sprunghaft vermehren. Jedenfalls werden die Falter sogar aus Santa Barbara und Bakersfield gemeldet. Tja, leider ist das alles wenig dämonisch – und ob der grüne Kohl mit den Toten zu tun hat? Man kann halt nicht alles haben, was? Lass dich mal wieder blicken.« Nacht In dieser Nacht wurde Bonnie in ihrer Zelle von einem Rascheln geweckt. Stöhnend drehte sie sich auf die andere Seite. Da hörte sie es wieder. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Die Gestalt in der finstersten Ecke der Zelle hatte ein ausdrucksloses schneeweißes Gesicht und Flügel mit metallisch glänzenden Spitzen. Ein leises Wispern ging von ihr aus. Als sie sich näherte, kratzte etwas über den Betonboden, so als hätte sie Klauen. »Itzpapalotl«, flüsterte Bonnie. Die Gestalt beugte sich über sie und breitete die Flügel aus. Bonnie sah die Augen und die schwarze, messerscharfe Zunge. »Nimm mich mit dir«, flehte Bonnie, »bitte, nimm mich mit.« Frei Natürlich hatten sie sie durchsucht, aber sie hatten nicht daran gedacht, dass sie eine Expertin war auf dem Gebiet der unendlichen Möglichkeiten, sich selbst umzubringen. Sie fanden Bonnie Winter, als sie um sechs Uhr drei die Zellentür öffneten. Sie lag auf dem Rücken und starrte geradeso an die Decke, wie sie am Morgen, als Duke und Ray verschwunden waren, an die Decke gestarrt hatte. Auf dem Zellenboden war eine Blutlache. Sie wurde stetig größer. Bonnie Winter war tot. Sie hatte einen Knopf der Matratze abgerissen und mit dem Finger das Loch so weit vergrößert, dass sie eine Feder herausziehen konnte. Mit dem scharfen Ende der Feder hatte sie sich die Pulsadern an beiden Handgelenken geöffnet. Um elf Uhr siebzehn kam Dan Munoz in die Zelle. Lange blieb er an der Tür stehen und fragte sich, was sie so weit getrieben haben mochte. Die beiden Falter mit den fast durchsichtigen Flügeln, die am Fenstergitter saßen, sah er nicht. Nachdem Dan gegangen war, erhoben sie sich in die Luft, flogen durch die offene Tür, den Gang hinunter an den Wachen vorbei nach draußen ins Licht der Morgensonne, in die Freiheit.